Sushi Murakami — Orientierungslauf

Das 8. Kapitel

Hai­da ver­lässt To­kio und die Uni­ver­si­tät oh­ne dies Tsu­ku­ru an­zu­kün­di­gen und be­en­det so ei­gen­mäch­tig die Freund­schaft. Tsu­ku­ru muss wie­der ein­mal ei­ne ab­rup­te Tren­nung hinnehmen.

Zu­vor ver­brach­te er sei­ner Mut­ter zu­lie­be ei­ni­ge Ta­ge in Na­go­ya. Die Vor­stel­lung dort Shiro und Kuro zu be­geg­nen, löst star­ke Schuld­ge­füh­le in ihm aus. Auch wenn es sich nur um ei­nen im­mer wie­der­keh­ren­den Traum han­delt, kom­men die „schmut­zi­gen, ego­is­ti­schen Fan­ta­sien“ „für ihn fast ei­ner Ver­ge­wal­ti­gung gleich“.

Auf das En­de der Freund­schaft re­agiert er mit un­ter­schied­li­chen Ge­füh­len. Zu­nächst sprach­los, er­füllt ihn ei­ne „ge­wis­se Ge­las­sen­heit“ und Ru­he, gleich­zei­tig ist er trau­rig und be­dau­ert es sehr.

Er wer­tet das Ver­schwin­den als Süh­ne für sei­ne „un­rei­nen Vor­stel­lun­gen“. Hai­da scheint wie einst sein Va­ter die Fern­sucht be­fal­len zu ha­ben. Wenn er nicht gar, mit die­ser dem Va­ter zu­ge­schrie­be­nen Ge­schich­te sein ei­ge­ne of­fen­ba­ren woll­te. Ich kann mit die­sem In­ter­pre­ta­tio­nen we­nig an­fan­gen. Hai­da ist weg. Tsu­ku­ru blei­ben Kaf­fee­müh­le und Boh­nen, die Liszt-Plat­ten und „die Er­in­ne­rung an die ge­heim­nis­vol­le Tie­fe sei­ner blau­en Au­gen“.

Kurz dar­auf lernt er ei­ne Frau ken­nen, mit der er sei­ne ers­te se­xu­el­le Be­zie­hung führt. Es sind we­der Lie­be noch Lei­den­schaft, die ihn an­trei­ben, son­dern der Drang „sich selbst zu be­wei­sen, daß er nicht ho­mo­se­xu­ell war“. Wie die Freund­schaft zu Hai­da so en­det auch die­se Be­zie­hung nach acht Mo­na­ten, wenn auch in ge­gen­sei­ti­gem Einverständnis.

Die­se Er­fah­rung schenkt Tsu­ku­ru ver­meint­li­che Ge­wiss­heit über sei­ne se­xu­el­le Ori­en­tie­rung und die Er­kennt­nis, „er braucht ei­ne fes­te Se­xu­al­part­ne­rin, um all­zu leb­haf­te ero­ti­sche Träu­me zu ver­mei­den und über­haupt in der Ge­gen­wart le­ben zu kön­nen“.

Foto

Die­ses Ka­pi­tel lie­fert kei­ne Weis­heit, da­für viel kru­de Moral.

Muttimania

Frühe Störung — Hans-Ulrich Treichels ironische Analyse einer ambivalenten Beziehung

frühe störungIch hät­te mich in un­end­li­che Ge­dan­ken­spie­le ver­stri­cken kön­nen, muss­te aber ir­gend­wann ein­se­hen, dass das Kern­pro­blem die­ses gan­zen in­ne­ren Hin und Her mei­ne Mut­ter war. Die Fer­ne, nach der ich mich sehn­te, war vor al­lem die Mut­ter­fer­ne. Und die Fer­ne, vor der ich mich fürch­te­te, war die­sel­be Mutterferne.“

Die Mut­ter­bin­dung ist bei Neu­ge­bo­re­nen es­sen­ti­ell, sie ga­ran­tiert das Über­le­ben. Der Mensch, von Na­tur aus kein Nest­flücht­ling, löst sich erst all­mäh­lich dar­aus um mit be­gin­nen­der Ado­les­zenz ein selbst­be­stimm­tes Le­ben zu führen.

Doch Be­zie­hun­gen sind stör­an­fäl­lig, be­son­ders die zwi­schen Mut­ter und Sohn. Sie lei­den nicht sel­ten an zu viel In­nig­keit und zu we­nig Distanz.

Ob Mam­mo­ne oder Mut­ter­söhn­chen, je­der kennt sol­che Fäl­le. In sei­nem neu­en Ro­man „Frü­he Stö­rung er­teilt Hans-Ul­rich Trei­chel ei­nem sol­chen das Wort. Franz Wal­ter, Aka­de­mi­ker mit dem pre­kä­ren Be­ruf des Rei­se­schrift­stel­lers, wohnt längst nicht „Mut­ti­ma­nia“ weiterlesen

Der Mythos vom Gaúcho

In Flut kämpft Daniel Galeras Held gegen Angst und Aberglauben

Ich weiß nur, dass wir uns nicht frei ent­schei­den kön­nen, aber trotz­dem so le­ben müs­sen als könn­ten wir es.“ S. 420

Be­stimmt das Schick­sal un­ser Le­ben oder hängt sein Ver­lauf von der ei­ge­nen Kraft und Mo­ti­va­ti­on ab? Die­se Fra­gen stellt Flut, der neue Ro­man des Bra­si­lia­ners Da­ni­el Ga­lera. Der in sei­ner Hei­mat an­ge­se­he­ne Au­tor hat be­reits meh­re­re Wer­ke ver­öf­fent­licht, pas­send zum Buch­mes­se-Auf­tritt Bra­si­li­ens wur­de Flut als sein ers­ter Ti­tel ins Deut­sche übertragen.

Der na­men­lo­se Held der Ge­schich­te ist um die Drei­ßig, Tri­ath­let und er­fah­re­ner Trai­ner. Er be­rei­tet sich und an­de­re dar­auf vor, die schwa­chen Mo­men­te zu durch­ste­hen und aus ei­nem Down wie­der auf­zu­tau­chen. Doch taugt die­ses Trai­ning auch für das Le­ben? Vor al­lem, wenn die­ses „Der My­thos vom Gaúcho“ weiterlesen

Psychologenprobleme

In „Der gute Psychologe“ erzählt Noam Shpancer von sich und anderen

Ei­ne jun­ge Kli­en­tin sitzt vor Ih­nen und er­zählt Ih­nen ih­re Ge­schich­te, und beim Spre­chen hält sie sich im­mer wie­der die Hand vor den Mund. Was be­deu­tet die­se Ges­te?“ (…) Die Freu­dia­ner wer­den sa­gen, sie hat auf ei­ner un­be­wuss­ten Ebe­ne Angst da­vor, in­kri­mi­nie­ren­de In­for­ma­tio­nen preis­zu­ge­ben,“ sagt Jen­ni­fer. „Sie leis­tet Wi­der­stand; sie ist am­bi­va­lent.“ „Ja; und was wer­den die Ko­gni­ti­vis­ten sa­gen?“ „Sie wer­den sie fra­gen, was sie sich selbst er­zählt, was sie denkt.“ „Ja, und die Be­ha­vio­ris­ten?“ „Ei­ne an­ge­lern­te Ge­wohn­heit,“ ant­wor­te­te Jen­ni­fer, „viel­leicht hat sie frü­her beim Spre­chen ge­spuckt und wur­de des­we­gen aus­ge­lacht und hat da­her ge­lernt, ih­ren Mund zu be­de­cken.“ „Wirk­lich ei­ne hüb­sche An­wen­dung des be­ha­vio­ris­ti­schen Cre­dos. Je­mand hier hört zu. Hal­le­lu­ja, Jen­ni­fer; Sie ha­ben mein mü­des, al­tes Herz er­wärmt. Und à pro­pos Herz, was wer­den die Hu­ma­nis­ten sa­gen?“ „Ah, da bin ich mir nicht si­cher; ich ver­ste­he sie nicht be­son­ders gut.“ „Nein, na­tür­lich nicht,“ sagt der Psy­cho­lo­ge lä­chelnd. „Nie­mand ver­steht die Hu­ma­nis­ten, und das schließt die Hu­ma­nis­ten selbst mit ein (…)“ S. 235f.

In die­sem fast schon flap­si­gen Lehr­dia­log zwi­schen Pro­fes­sor und Stu­den­tin zei­gen sich zwei Merk­ma­le des Ro­mans „Der gu­te Psy­cho­lo­ge“. Die Psy­cho­lo­gie ist, wie die viel­fäl­ti­gen In­ter­pre­ta­ti­ons­an­sät­ze von Ver­hal­ten zei­gen, kei­ne Leh­re der ein­deu­ti­gen Hand­lungs­an­wei­sun­gen. Dies sorgt für Ir­ri­ta­tio­nen und kon­fron­tiert ih­re Ver­tre­ter bis­wei­len mit in­ne­ren Kon­flik­ten. Die Psy­cho­lo­gie hat kei­ne Pa­tent­re­zep­te, die­se Bot­schaft ver­mit­telt der Au­tor mit­un­ter ver­ein­facht und trotz Kli­schees in un­ter­halt­sa­mer, selbst­iro­ni­scher Weise.

Noam Sh­pan­cer, selbst Psy­cho­lo­ge, lehrt in Ohio als „Psy­cho­lo­gen­pro­ble­me“ weiterlesen

Metaebenen in Liebe und Literatur

Peter Stamm erzählt in „Agnes“ über die Schwierigkeit von Nähe

Das Ma­nu­skript die­ses Ro­mans reich­te Pe­ter Stamm bei meh­re­ren Ver­la­gen ver­geb­lich ein, be­vor es im Zü­ri­cher Ar­che Ver­lag zum er­folg­rei­chen De­büt wur­de. Viel­leicht war es so lan­ge ver­kannt, weil Stamm auf den ers­ten Blick ei­ne alt­be­kann­te Ge­schich­te er­zählt, die ei­ner Be­zie­hung, auf die ein gleich und gleich eben­so zu­trifft wie die sich an­zie­hen­den Gegensätze.

Stamm sie­delt sein Paar in Chi­ca­go an, wo es im Le­se­saal der Pu­blic Li­bra­ry ein­an­der be­geg­net. Un­gleich im Al­ter sind die bei­den, sie 25, er, der fast ihr Va­ter sein könn­te, um die 40, auch in ih­ren In­ter­es­sen ver­schie­den. Agnes pro­mo­viert in Phy­sik, der Schwei­zer Sach­buch­au­tor schreibt über Lu­xus­wa­gons von Pull­mann. Bei­de agie­ren scheu in ih­ren An­nä­he­run­gen, doch ei­ni­ge Zi­ga­ret­ten und Kaf­fees spä­ter wer­den sie ein Paar. Das Schüch­ter­ne und die Schwie­rig­keit über Ge­füh­le zu spre­chen bleiben.

Ein un­spek­ta­ku­lä­res Su­jet, das al­ler­dings durch das Spiel mit der Me­ta­ebe­ne „Me­ta­ebe­nen in Lie­be und Li­te­ra­tur“ weiterlesen

Träume im Stauburwald

Schöne Sprüche in Lucy Frickes „Ich habe Freunde mitgebracht

Am An­fang steht die Flucht. Auf ei­ner knap­pen Sei­te be­geg­net der Le­ser vier Per­so­nen auf dem Weg nach Nor­den, zwei an­schei­nend schwer ver­letzt. Ei­ne Road­sto­ry ent­wi­ckelt sich den­noch nicht, die Ge­schich­te ist in der Rück­schau an­ge­legt. Zu­dem wird die Fahrt wohl eher eng als ra­sant ge­we­sen sein, denn sie er­folg­te in ei­nem mit vier Per­so­nen voll be­setz­ten VW Lu­po und das En­de ist an­ders als erträumt.

Wir ler­nen die vier Freun­de ken­nen. Mar­tha und Hen­ning sind ein Paar. Bet­ty, die beim Film als Skript­girl ar­bei­tet, ist mit Mar­tha be­freun­det, Jon, ein er­folg­lo­ser Schau­spie­ler, mit Hen­ning. Al­le ver­bin­det der Wunsch ih­rer bis­he­ri­gen Exis­tenz zu ent­flie­hen. Ganz tra­di­tio­nell träu­men die Frau­en vom per­sön­li­chen Glück, wel­ches sie in ei­nem Kind oder in ei­ner er­füll­ten Lie­bes­be­zie­hung ver­mu­ten. Die bei­den Män­ner er­hof­fen sich hin­ge­gen be­ruf­li­chen Erfolg.

In schnel­lem Wech­sel rich­tet Fri­cke den Fo­kus auf je­weils ei­ne der Haupt­per­so­nen und skiz­ziert mit rück­halt­los ehr­li­chen, oft sar­kas­ti­schen Be­mer­kun­gen auf we­ni­gen Sei­ten de­ren Welt­sicht. Die ent­täusch­te Bet­ty ver­ach­tet ih­ren Nach­barn, der ist „kei­ne 25 und hängt schon am Le­ben“, die Tren­nung von „Träu­me im Stau­bur­wald“ weiterlesen

Vatersorgen

Vermurkste Winterreise in Thomas Hettches Roman „Die Liebe der Väter

Ein Va­ter reist mit sei­ner Toch­ter nach Sylt, um die Win­ter­fe­ri­en im an­ge­mie­te­ten Reet­dach­do­mi­zil von Be­kann­ten zu ver­brin­gen. Das dor­ti­ge Kli­ma ist zu die­ser Jah­res­zeit rauh und un­ge­müt­lich und lässt die ent­ste­hen­de At­mo­sphä­re in der be­son­de­ren Fa­mi­li­en­kon­stel­la­ti­on zwi­schen dem un­ver­hei­ra­te­ten Va­ter und sei­ner zwi­schen den sich nicht lie­ben­den El­tern zer­rie­be­nen Toch­ter be­reits er­ah­nen. Zu­dem spielt die Hand­lung aus­ge­rech­net an den Ta­gen, de­ren Näch­te eben­falls die­ses un­heil­ver­hei­ßen­de Prä­fix tragen.

Die drei­zehn­jäh­ri­ge An­ni­ka und Pe­ter ver­le­ben die­se dem All­tag ab­ge­run­ge­ne ge­mein­sa­me Zeit als Zaun­gäs­te in ei­ner Bil­der­buch­fa­mi­lie aus Va­ter, Mut­ter, Toch­ter, Sohn und BMW. Zwi­schen Su­san­ne, der Ehe­frau des Or­tho­pä­den Achim, und Pe­ter be­stand einst ei­ne Schü­ler­lie­be, die sich „Va­ter­sor­gen“ weiterlesen

Sissy meets Beatle

Eine Komposition aus Stimmen — Judith Zanders neuer Roman „Dinge, die wir heute sagten

Tris­tesse be­geg­net uns nicht nur in der ost­deut­schen Pro­vinz, son­dern über­all in Deutsch­land und wahr­schein­lich auch an­ders­wo. Doch ist die­ses Le­ben wirk­lich so er­eig­nis­los und oh­ne Span­nung. Gibt es wirk­lich über­haupt nichts?

Ju­dith Zan­der ver­setzt den Le­ser durch Spra­che und Zeit­ge­schich­te in die DDR einst und das neue Bun­des­land jetzt, vor­ge­führt an Bre­se­kow, ei­nem „häss­li­chen End­lein der Welt“. Die Um­stän­de ha­ben sich ge­än­dert, die Ver­hält­nis­se je­doch nicht, was der Blick auf die drei Ge­ne­ra­tio­nen des Or­tes zeigt.

Die al­te An­na Hans­ke ist nicht mehr und In­grid, die ver­lo­re­ne Toch­ter, kehrt pflicht­ge­mäß heim um „Sis­sy meets Beat­le“ weiterlesen

Dino fliegt ins All

Vorliebe, der neue Roman von Ulrike Draesner

Ei­ne Ju­gend­lie­be, sei es nun ei­ne un­aus­ge­leb­te oder gar ei­ne gro­ße, wie­der zu tref­fen nach­dem man sein gan­zes Er­wach­se­nen­le­ben an­der­wei­tig ge­liebt hat, mag pas­sie­ren, in Ro­ma­nen so­gar nicht selten.

Auch Ul­ri­ke Draes­ner baut in ih­rem neu­en, und mit dem So­lo­thur­ner Li­te­ra­tur­preis aus­ge­lob­ten Ro­man Vor­lie­be, auf eben die­se Idee. Ge­spannt ver­folgt die Le­se­rin, wie ei­ne Un­acht­sam­keit im Stra­ßen­ver­kehr ei­nen Un­fall ver­ur­sacht, des­sen Spät­fol­gen fa­tal um nicht zu sa­gen töd­lich sind.

Ein Stoff aus dem Pilch­er­träu­me er­wach­sen? Mit­nich­ten. Zwar gibt es auch hier exo­ti­sche Na­men, Sa­ra­man­di­pur und Ol­vaeus, und so­gar ei­nen rot­haa­ri­gen Eng­län­der, Ash­ley. Es gibt ei­fer­süch­ti­ge „Di­no fliegt ins All“ weiterlesen