An die Jugend

Pornographie“ von Witold Gombrowicz, eine als Farce getarnte Ode

Der un­sicht­ba­re Gar­ten schwoll an und schwelg­te in ei­nem Zau­ber – ob­wohl feucht, ob­wohl düs­ter, und mit die­sem scheuß­li­chen Ver­rück­ten – ich muss­te tief auf­at­men in die­ser Fri­sche, ba­de­te plötz­lich in ei­nem wun­der­voll bit­te­ren Ele­ment, ei­nem zer­rei­ßend ver­füh­re­ri­schen. Wie­der wur­de al­les, al­les, al­les jung und sinn­lich, so­gar wir!“

Ob Wi­told Gom­bro­wicz beim Ver­fas­sen die­ser Zei­len Sze­nen er­träum­te, wie sie auch Max Ernst in sei­nen Gar­ten- und Dschun­gel­bil­der mal­te? Das klei­ne Ge­mäl­de „Na­tur im Mor­gen­licht“ aus dem Stä­del legt dies nah. Der 1904 ge­bo­re­ne Wi­told Gom­bro­wicz war wie der 13 Jah­re äl­te­re Max Ernst dem Da­da­is­mus ver­bun­den. Ei­ne Spur, die sich nicht nur im an­ge­führ­ten Ver­gleich, son­dern an vie­len Stel­len in Gom­bro­wiczs Ro­man „Por­no­gra­phie“ zeigt.

Der Ro­man ent­führt in die Na­tur ei­nes pol­ni­schen Land­guts, die wie bei Ernst als Di­ckicht wu­chert, in dem Ero­tik spür­bar ist und sich doch nie so recht fas­sen lässt. Ernst wie Gom­bro­wicz er­schaf­fen Phan­ta­sie­wel­ten. Es geht es ih­nen nicht al­lei­ne um die kon­kre­te Dar­stel­lung, die­se trans­por­tiert viel­mehr ih­re Auf­fas­sung von Kunst. So wie Max Ernst sich als Vo­gel­ge­stalt in sei­ner Gar­ten­sze­ne ima­gi­niert, wählt sich auch Wi­told Gom­bro­wicz min­des­tens ein Al­ter Ego in „Por­no­gra­phie“.

Wi­told und Fry­deryk, zwei Män­ner um die Sech­zig, er­hal­ten 1943 in War­schau die Ein­la­dung ei­nes Be­kann­ten, sie auf sei­nem Land­gut zu be­su­chen. Nichts Groß­ar­ti­ges wird sich dort er­eig­nen in der Pro­vinz, die vom Krieg kaum tan­giert scheint. Es­sen, Trin­ken, Re­den, Spa­zie­ren­ge­hen, dies al­les fin­det, dann doch wie­der we­gen des Kriegs, auf be­grenz­tem Raum statt. Be­grenzt sind auch die In­ter­ak­tio­nen der we­ni­gen an die­sem kam­mer­spiel­ar­ti­gen „An die Ju­gend“ weiterlesen

Unerinnerbarer Horror“

Emmanuel Carrère erzählt in „Yoga“ von seinem Kampf gegen innere Irrlichter

Es ist ein dor­nen­rei­ches Un­ter­fan­gen ei­ner so irr­lich­tern­den Be­we­gung wie der un­se­res Geis­tes zu fol­gen, ihm in die ver­bor­ge­nen Win­kel nach­zu­drin­gen und noch die win­zigs­ten Er­schei­nungs­for­men sei­ner Un­ru­he au­zu­ma­chen und auf­zu­zeich­nen. Meh­re­re Jah­re sind es schon, dass ich mei­nen Ge­dan­ken nur mich selbst zum Ge­gen­stand ge­setzt ha­be, dass ich nichts an­de­res un­ter­su­che und er­for­sche als mich, und er­for­sche ich doch et­was an­de­res, dann nur, um es auf mich zu be­zie­hen.“ (Mon­tai­gne)

Ich wür­de ger­ne et­was an­de­res den­ken als das, was ich den­ke, denn was ich den­ke und oft ge­nug auf­ge­zählt ha­be ist sinn­los, es ist im­mer das­sel­be und über­trie­ben selbstbezogen.“(Carrère)

Yo­ga“, der Ti­tel des jüngs­ten von Em­ma­nu­el Car­rè­re ver­fass­ten Ro­mans mag den Le­ser in die fal­sche Rich­tung füh­ren. Man lernt zwar ei­ni­ges über Yo­ga oder bes­ser über Me­di­ta­ti­on, das stil­le sich von al­len in­ne­ren Irr­lich­tern frei ma­chen­de Sit­zen, wie es be­reits in ei­nem Ro­man von Tim Parks be­schrie­ben wur­de. Doch Car­rè­res Auf­ent­halt in ei­nem klos­ter­glei­chen „Ge­he­ge“, wo al­les, was Spaß macht, ver­bo­ten ist, bil­det nur den ers­ten der vier Tei­le des Buchs die­ses auf au­to­fik­tio­na­les Er­zäh­len abon­nier­ten Au­tors. Sei­nem ich-er­zäh­len­den Ro­man-Ego ist be­wusst, daß sei­ne Art al­le Sät­ze mit Ich zu be­gin­nen, zu­min­dest was das Brie­fe­schrei­ben be­trifft, ent­ge­gen al­len Re­geln ist. Re­geln der Höf­lich­keit und der Rück­sicht, ge­gen die auch der Ro­man ver­stößt, wo­von die Le­se­rin al­ler­dings nur se­kun­där und durch Un­erin­ner­ba­rer Hor­ror““ weiterlesen

Das Erbe der Voortrekker

Damon Galgut erzählt in „Das Versprechen” von der Last der kolonialen Vergangenheit

…die Fa­mi­lie Swart hat so gar nichts Be­son­de­res oder Be­mer­kens­wer­tes, o nein, sie gleicht der Fa­mi­lie von der Nach­bar­farm und der Nach­bar­farm der Nach­bar­farm, nur ein ge­wöhn­li­cher Hau­fen wei­ßer Süd­afri­ka­ner, und wenn du es nicht glaubst, brauchst du nur ein­mal dar­auf zu ach­ten, wie wir spre­chen. Wir klin­gen nicht an­ders als die an­de­ren Stim­men, wir klin­gen ganz ge­nau­so, und wir er­zäh­len die­sel­ben Ge­schich­ten, in ei­nem brei­igen Ak­zent, mit ge­köpf­ten Kon­so­nan­ten und ge­quetsch­ten Vo­ka­len. Un­se­re See­le ist ir­gend­wie ver­ros­tet, re­gen­fle­ckig und ver­beult, und das hört man un­se­rer Stim­me an.“

Wie im vor kur­zem hier be­spro­che­nen Ro­man von Ali­ne Valang­in spielt ein Haus ei­ne Rol­le. Kein pracht­vol­ler Pa­laz­zo, son­dern ei­ne rui­nö­se Hüt­te, ab­ge­le­gen auf dem weit­läu­fi­gen Ge­län­de ei­ner Farm au­ßer­halb Pre­to­ri­as. Dort lebt Sa­lo­me, das schwar­ze Haus­mäd­chen, die der Be­sit­zer „beim Kauf gra­tis da­zu­be­kom­men hat“. Auch wenn sie von den Swarts als In­ven­tar und kaum als In­di­vi­du­um be­trach­tet wird, spielt sie ei­ne wich­ti­ge Rol­le im Fa­mi­li­en­ge­fü­ge. Sie hat die Kin­der An­ton, As­trid und Amor auf­ge­zo­gen und pfleg­te de­ren Mut­ter Ra­chel. Als die­se stirbt, nimmt Ra­chel ih­rem Mann das Ver­spre­chen ab, „Das Er­be der Vo­ortrek­ker“ weiterlesen

Keine Frau ihrer Zeit

Aline Valangin erzählt in „Casa Conti“ von Frauen im Tessin der Zwischenkriegszeit

Die Ca­sa Con­ti stand am An­fang ei­nes Dor­fes, al­lein, in­mit­ten ei­nes sanft an­stei­gen­den und in Ter­ras­sen ge­ord­ne­ten Ge­län­des, auf wel­chem zu­un­terst Re­ben, wei­ter oben Kar­tof­feln und ums Haus her­um Ge­mü­se und Blu­men wuch­sen. Zwei Rei­hen Pal­men säum­ten den brei­ten, ge­ra­den Trep­pen­weg vom gro­ßen Tor der Be­sit­zung bis zur obers­ten Platt­form. Links ne­ben dem Hau­se wa­ren klei­ne­re Ge­bäu­de, Stäl­le und Re­mi­sen zu­sam­men­ge­drängt, rechts da­von zog sich der Gar­ten ei­ner ho­hen Mau­er ent­lang, die ihn ge­gen Nor­den schütz­te, dem Obst­gar­ten zu, der wei­ter drü­ben in Wie­sen und klei­ne Äcker aus­lief. Das gan­ze An­we­sen war et­was ver­wahr­lost. (…) Doch tat das der Schön­heit und dem Stolz des Hau­ses we­nig Ab­bruch. Es stand mit di­cken Mau­ern wie für die Ewig­keit ge­schaf­fen da, schau­te et­was hoch­mü­tig aus sei­nen durch Ma­le­rei­en ver­zier­ten und er­höh­ten Fens­tern übers Land hin­aus, und das Wap­pen der Con­ti über der Haus­tü­re war frisch wie am ers­ten Tag.“

Das Cas­tel­lo ist Al­bas El­tern­haus, in das sie ge­zwun­gen durch die ge­schäft­li­che Mi­se­re ih­res Man­nes Vi­to aus Mai­land zu­rück­kehrt. Al­ba ist dar­auf an­ge­wie­sen, daß ihr Va­ter sie wie­der auf­nimmt. Der No­tar und Holz­händ­ler Giu­lio Mor­si­ni hat auf sei­ne al­ten Ta­ge nichts ge­gen die Ge­sell­schaft sei­ner äl­tes­ten Toch­ter ein­zu­wen­den. Küh­ler wird Al­ba von ih­rer Schwes­ter emp­fan­gen. Seit ih­rem letz­ten Wie­der­se­hen bei Li­set­tas Hoch­zeit vor zehn Jah­ren ist die­se ist nicht nur dick, son­dern Al­ba fremd ge­wor­den. Ein un­ehe­li­ches „Kei­ne Frau ih­rer Zeit“ weiterlesen

In Sorrent wird alles besser“

Andrea und Dirk Liesemer erzählen von Nietzsches „Neuanfang im Süden“

End­lich ent­fernt er sich vom Land und tritt die Rei­se auf See an, kann al­les Al­te hin­ter sich las­sen, sich ei­nem Schiff an­ver­trau­en, hat un­ter sich nur noch die Tie­fe des Mee­res. Wenn er dann an ei­nem an­de­ren Ort an­kommt, wird er den fes­ten Bo­den ei­ner an­ders­ar­ti­gen Welt be­tre­ten, um sein Le­ben von Neu­em zu be­gin­nen, sich an der Wei­te des süd­li­chen Him­mels erfreuen.”

An „Ta­ge in Sor­rent“, dem Ro­man von An­drea und Dirk Lie­se­mer, rei­zen mich der Hand­lungs­ort, den ich gut ken­ne, die Epo­che so­wie das Per­so­nal des Ro­mans. Al­len vor­an Fried­rich Nietz­sche, der sich noch jung, aber durch sei­ne Seh­schwä­che be­ein­träch­tigt, auf Ein­la­dung ei­ner Mä­ze­nin im süd­li­chen Sor­rent er­ho­len möch­te. Sei­ne Be­glei­ter, zwei jun­ge Aka­de­mi­ker, rei­sen als Un­ter­stüt­zer mit ihm und wer­den mit der Zeit zu Lei­dens­ge­nos­sen. Wenn auch auf un­ter­schied­li­che Wei­se, ist al­len ge­mein­sam das Lei­den an sich selbst.

Gleich zu Be­ginn des Ro­mans be­geg­nen wir Nietz­sche, dem das Au­toren­paar Lie­se­mer in per­so­na­ler Er­zähl­form na­he­kommt. Sei­ne Be­find­lich­kei­ten wäh­rend der be­schwer­li­chen Rei­se, sein Ha­dern mit dem In Sor­rent wird al­les bes­ser““ weiterlesen

Liebe und Schmerz

Itō Hiromi erzählt in „Dornauszieher“ von den ambivalenten Gefühlen eines alternden Ichs

Mut­ters Qual. Va­ters Qual. Ehe­manns Qual.
Ein­sam­keit, Angst, Frustration.
Die­se Qua­len be­fal­len mich zwar, aber neu­er­dings quä­len sie mich nicht wirk­lich. All die Qua­len, mit de­nen ich mich her­um­schla­ge, so wur­de mir klar, sind ja mein Stoff. Ich bin da­mit be­schäf­tigt, die­se Qua­len zu fi­xie­ren und von ih­nen zu er­zäh­len, und in­dem ich von ih­nen er­zäh­le, ver­ges­se ich die Qua­len, ist das nicht doch der Se­gen von Ji­zō, dem Dornauszieher?“

Dorn­aus­zie­her“, der Ti­tel des Ro­mans der Ja­pa­ne­rin Itō Hi­ro­mi, weckt bei mir die As­so­zia­ti­on zu ei­ner be­rühm­ten Skulp­tur der An­ti­ke. Mei­ne west­li­che, durch Vor­lie­ben ge­präg­te Ver­knüp­fung liegt der von Itō in­ten­dier­ten Fi­gur räum­lich wie my­tho­lo­gisch ziem­lich fern. Sie denkt an den im Un­ter­ti­tel ge­nann­ten Ji­zō von Su­ga­mo, ei­nen Gott, an den sich der Gläu­bi­ge wen­det, um ei­ne Pla­ge los­zu­wer­den. Ich den­ke an den Jüng­ling, der ei­nen Dorn aus sei­nem Fuß zieht. Bei­den ge­mein­sam ist der Schmerz, der zu­gleich als Haupt­mo­tiv des Ro­mans ge­se­hen wer­den kann.

Hi­ro­mi Itō oder bes­ser Itō Hi­ro­mi, ge­mäß der ja­pa­ni­schen Na­mens­fol­ge, wur­de 1955 in To­kyo ge­bo­ren. Eben­so wich­tig wie die kor­rek­te Stel­lung des Vor- und Nach­na­mens, die be­wusst für die Haupt­fi­gur des Ro­mans ge­tauscht wur­de, ist die Be­to­nung. Die west­li­che Ge­wohn­heit, die zwei­te Sil­be her­vor­zu­he­ben, bringt Hi­ro­mi be­son­ders auf die Pal­me, wenn ihr eng­li­scher Ehe­mann dies nicht be­herrscht. Die­se und an­de­re, schmerz­vol­le­re „Lie­be und Schmerz“ weiterlesen

Vom Hacken und Schreiben

In „Capricho. Ein Sommer in meinem Garten“ findet Beat Sterchi beim Prokrastinieren einen Schatz

Ge­ra­de als ich ein wei­te­res Stück des Ackers in An­griff neh­men woll­te, stand der al­te Mar­cos auf dem Weg oben auf der Mau­er ne­ben dem Be­wäs­se­rungs­ka­nal. Er nahm den Stroh­hut vom Kopf, kratz­te sich mit der glei­chen Hand in sei­nem di­cken, wei­ßen Haar und kicherte.
Nur so wei­ter!, sag­te er. Un­ver­hoh­len mus­ter­te er mei­ne Ar­beit. Dann sag­te er, er ha­be mir Saat­kar­tof­feln be­sorgt. Er ha­be den Korb an den Ein­gang mei­nes Hau­ses gestellt.
War­um hast du sie nicht gleich mit­ge­bracht?, frag­te ich.
Hombre, sag­te er. No es lu­na! Der Mond ste­het nicht rich­tig! Ich müs­se den Voll­mond ab­war­ten. Erst am Sams­tag kön­ne ich die Kar­tof­feln setzen.“

Was gibt es Schö­ne­res als im Gar­ten zu sein? Dort ist Luft und Le­ben und die Ar­beit for­dert den Kör­per. Der Geist bleibt frei, nicht über­mä­ßig be­an­sprucht vom Schnip­peln und Schnei­den, vom Ha­cken und Jä­ten. Din­ge, die ge­tan wer­den müs­sen und zu­gleich Flucht vor der Welt und den Auf­ga­ben er­lau­ben. Dicht am Bo­den fin­det der Geist In­spi­ra­tio­nen und denkt, was ihm ge­ra­de in den Sinn kommt.

Auch ich wä­re jetzt ger­ne in mei­nem Gar­ten. Er ruft. Es ist Früh­ling. Bun­te Blü­ten ent­de­cken, wild Wu­chern­des ent­fer­nen und die Ro­sen ein paar Köp­fe kür­zer ma­chen. All das muss war­ten, denn „Vom Ha­cken und Schrei­ben“ weiterlesen

Bilder, Blicke, Begegnungen in Tokio

In „Tage in Tokio“ hinterfragt Christoph Peters das westliche Japanideal

Wäh­rend Ku­me­ka­wa-san den Ta­xi­fah­rer be­zahlt, ste­he ich et­was ver­lo­ren auf der Stra­ße, ne­ben mir die bei­den Kof­fern, und schaue mich um. Ein Kon­glo­me­rat aus über Jahr­zehn­ten an­ge­sam­mel­ten Bil­dern ja­pa­ni­scher Le­bens­wel­ten schim­mert wie durch ei­ne Milch­glas­schei­be aus dem Hin­ter­kopf ins Be­wusst­sein. Mir däm­mert all­mäh­lich, dass ich das, was ich se­he, hö­re, rie­che, per­ma­nent mit ein­ge­la­ger­ten Vor­stel­lun­gen ab­glei­che und dem­entspre­chend in „ty­pisch“, „un­ge­wöhn­lich“ oder „er­staun­lich“ ein­tei­le. Zu­gleich führt mir das kla­re Licht des spä­ten Vor­mit­tags schlag­ar­tig vor Au­gen, dass jetzt nichts da­von mehr gilt und dass ich von dem, was ich bräuch­te, um mich si­cher und ele­gant durch die Stadt zu be­we­gen, nicht die ge­rings­te Ah­nung habe.“

Von ei­ner in­ter­kul­tu­rel­len Be­geg­nung zwi­schen Ja­pan und Deutsch­land er­zählt Chris­toph Pe­ters be­reits in sei­nem 2014 er­schie­nen Ro­man. Des­sen Ti­tel, Herr Ya­mas­hiro be­vor­zugt Kar­tof­feln, deu­tet an, daß man­ches ent­ge­gen den Er­war­tun­gen ver­läuft bei der Zu­sam­men­ar­beit des an Jan Koll­witz an­ge­lehn­ten Ke­ra­mik­künst­lers mit ei­nem ja­pa­ni­schen Ofen­bau­er in der nie­der­deut­schen Provinz.

Ja­pa­ni­sche Ke­ra­mik, das tra­di­tio­nel­le Tee­ze­re­mo­ni­ell und Jan Koll­witz fin­den auch in Pe­ters neu­em Buch „Ta­ge in To­kio“ Ein­gang. Die Er­leb­nis­se, Er­fah­run­gen und Ge­dan­ken des Au­tors als Rei­se­be­richt zu be­zeich­nen, wä­re zu kurz ge­grif­fen. Für Pe­ters, den die Lei­den­schaft für ja­pa­ni­sche Cha­wan der Mo­moy­a­ma-Zeit (1573–1603) seit über drei­ßig Jah­ren nicht los­lässt, ist es der ers­te Be­such in dem Land, über das er so viel ge­le­sen und ge­hört hat. Sei­ne Be­geg­nun­gen in Kunst, Kul­tur und All­tag über­ra­schen den Rei­sen­den und ver­lei­ten ihn zu phi­lo­so­phi­schen Über­le­gun­gen. Da­zwi­schen fin­det er im­mer wie­der den Weg zur Ke­ra­mik, sei­nem Spe­zi­al­su­jet, dem wir nicht nur in Ge­stalt der Un­oha­na­ga­ki be­geg­nen, ei­ner zum Kunst-Na­tio­nal­schatz Ja­pans er­ho­be­nen Tee­scha­le, die Pe­ters in To­kio bewundert.

Doch zu­nächst muss er erst ein­mal an­kom­men. Schon die ers­ten Bli­cke auf das Land sei­ner Träu­me, wie man es wohl nen­nen darf, kon­fron­tie­ren den durch Lek­tü­re und Ge­sprä­che ge­lehr­ten Be­trach­ter mit der „Bil­der, Bli­cke, Be­geg­nun­gen in To­kio“ weiterlesen

Dunkelblumer Heimatsagen

In ihrem Roman „Dunkelblum“ erzählt Eva Menasse eine alte Geschichte auf neue Weise

In Dun­kel­blum ha­ben die Mau­ern Oh­ren, die Blü­ten in den Gär­ten ha­ben Au­gen, sie dre­hen ih­re Köpf­chen hier­hin und dort­hin, da­mit ih­nen nichts ent­geht, und das Gras re­gis­triert mit sei­nen Schnurr­haa­ren je­den Schritt. Die Men­schen ha­ben im­mer­zu ein Ge­spür. Die Vor­hän­ge im Ort be­we­gen sich wie von lei­sem Atem ge­trie­ben, ein und aus, le­bens­not­wen­dig. Je­des Mal, wenn Gott von oben in die­se Häu­ser schaut, als hät­ten sie gar kei­ne Dä­cher, wenn er hin­ein­blickt in die Pup­pen­häu­ser sei­nes Mo­dell­städt­chens, das er zu­sam­men mit dem Teu­fel ge­baut hat zur Mah­nung an al­le, dann sieht er in fast je­dem Haus wel­che, die an den Fens­tern hin­ter ih­ren Vor­hän­gen ste­hen und hinausspähen.“

In den ers­ten Sät­zen ih­res neu­en Ro­mans cha­rak­te­ri­siert Eva Men­as­se tref­fend die At­mo­sphä­re von „Dun­kel­blum“. Im ös­ter­rei­chi­schen Bur­gen­land liegt das fik­ti­ve „Mo­dell­städt­chen“, wel­ches die Au­torin mit sa­ta­ni­scher Schreiblust und gött­li­chem Dich­ter­geist ge­schaf­fen hat, qua­si in Personalunion.

His­to­risch grün­det ih­re Ge­schich­te auf dem Mas­sa­ker von Rech­nitz. In dem Ort wur­den in der Nacht vom 24. auf den 25. März 1945 an die 200 Men­schen er­schos­sen, wäh­rend der Graf im Schloss mit der Na­zi­pro­mi­nenz fei­er­te. Die Über­res­te der Op­fer wur­den nie ge­fun­den. Die Tä­ter ent­gin­gen ih­rer Stra­fe dank ef­fi­zi­en­ter Lokalamnesie.

Das Ver­ges­sen oder bes­ser das Nicht­er­in­nern­wol­len herrscht auch in Dun­kel­blum. Der Ort, so Men­as­se in ei­nem In­ter­view, ste­he nicht al­lein für das ös­ter­rei­chi­sche Bur­gen­land, wo hun­der­te Zwangs­ar­bei­ter im na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­zweif­lungs­pro­jekt „Süd­ost­wall“ zu To­de ge­schun­den wur­den, son­dern für al­le Or­te, wo die Un­ta­ten der Na­zi­herr­schaft ver­gra­ben und ver­ges­sen sind.

Der Ro­man spielt im Au­gust des Jah­res 1989 und doch scheint die Zeit seit Jahr­zehn­ten „im Grun­de ste­hen ge­blie­ben“, denn die al­ten Ge­sell­schafts- und Ge­sin­nungs­struk­tu­ren le­ben fort. Zwar sind die Ewig­gest­ri­gen „Dun­kel­blu­mer Hei­mat­sa­gen“ weiterlesen

Flug durch die Zitatenfülle

Hervé Le Tellier trifft in „Die Anomalie“ fast jeden Geschmack

Was ist die­ses Buch? Ein Sci­ence-Fic­tion-Ro­man, der die Erd­be­völ­ke­rung als Ho­lo­gramm ent­larvt? Ein Best­sel­ler, der mit ge­nia­lem Gen­re­mix den Main­stream­ge­schmack trifft? Oder ein Werk der Grup­pe OuLi­Po, de­ren Au­toren sich ex­pe­ri­men­tel­ler Li­te­ra­tur wid­men und bei­spiels­wei­se Ro­ma­ne oh­ne E ver­fas­sen? Viel­leicht ist „Die An­oma­lie“ al­les zu­sam­men. Der neue Ro­man von Her­vé Le Tel­lier wur­de 2020 mit dem Prix Gon­court aus­ge­zeich­net und seit sei­ner Über­set­zung durch Ro­my und Jür­gen Rit­te in Li­te­ra­tur­sen­dun­gen wie im Feuil­le­ton eher rauf als run­ter diskutiert.

Der In­halt lässt sich an sei­ner Kon­struk­ti­on kurz um­rei­ßen. In Teil Eins stellt Le Tel­lier die Fi­gu­ren vor, die ne­ben zahl­rei­chen wei­te­ren die Haupt­rol­len in sei­nem Ro­man spie­len. Die un­ter­schied­li­chen Cha­rak­te­re sind in­so­fern in­ter­es­sant, als sie un­ter­schied­li­che Le­ser­vor­lie­ben er­fül­len. Das Ge­schäft ei­nes kalt­blü­ti­gen Auf­trags­kil­lers reiht sich an ei­nen Auf­stieg durch Bil­dung und na­tür­lich darf auch die Lie­be nicht feh­len. Die­se tritt in üb­li­chen Va­ria­tio­nen auf. Die jun­ge, schö­ne, selbst­be­wuss­te, aber in schwie­ri­gen Um­stän­den le­ben­de Frau mit dem al­ten, we­ni­ger schö­nen, da­für wohl­ha­ben­den Mann gibt es eben­so wie die bei­den ver­kopf­ten Wis­sen­schaft­ler, die ih­re Ge­füh­le, vor al­lem die für­ein­an­der, noch ent­de­cken müs­sen. Al­le Prot­ago­nis­ten sind als Pas­sa­gie­re ei­nes Flug­zeugs oder als Wis­sen­schaft­ler von der An­oma­lie be­trof­fen, die sich als „Flug durch die Zi­ta­ten­fül­le“ weiterlesen