Und wenn es doch wahr ist?“

Charles Ferdinand Ramuz zeigt in seiner 1922 erschienenen Dystopie „Sturz in die Sonne“, wohin die Klimakrise führen könnte

…nun wird sich al­les für al­le Men­schen so sehr än­dern, dass sie sich sel­ber nicht wie­der­erken­nen wer­den, aber vor­erst än­dert sich nichts. (…) Sie stel­len sich nichts vor, das über sie hin­aus­geht. Sie hal­ten die Be­stän­dig­keit der Din­ge für so be­stän­dig, dass sie sich nie­mals än­dern wird.“

Die Ma­ler­dy­nas­tie der Brueg­hels schuf die  be­rühm­ten Wim­mel­bil­der der nie­der­län­di­schen Re­nais­sance, sie zei­gen den Dorf­all­tag, Fes­te und Win­ter­ver­gnü­gen in sze­nen­rei­chen Ta­bleaus. Mit „Tri­umph des To­des“ schuf Pie­ter Brueg­hel der Äl­te­re so­gar ei­ne Dar­stel­lung der Apo­ka­lyp­se, die den vor­lie­gen­den Ro­man von Charles Fer­di­nand Ra­muz vor­treff­lich il­lus­trie­ren könnte.

Sturz in die Son­ne“ er­schien erst­mals im Jahr 1922 un­ter dem Ti­tel „Pré­sence de la mort“. Ra­muz hat­te ihn, wie Ste­ven Wyss, sein Über­set­zer im Nach­wort kennt­nis­reich er­läu­tert, un­ter dem Ein­druck des Gen­fer Hit­ze­som­mers von 1921 ver­fasst. Da­mals wur­den es dort 38,3 Grad heiß. „Nur“ den­ken wir heu­te, da uns die Kli­ma­kri­se weit hö­he­re Tem­pe­ra­tu­ren be­schert. Sie be­schert uns al­ler­dings auch die Wie­der­ent­de­ckung die­ses Ro­mans, auf den Wyss in der Aus­stel­lung „Cli­ma­te Fic­tion“ auf­merk­sam wur­de. Die Ka­ta­stro­phe liegt bei Ra­muz al­ler­dings nicht in mensch­li­cher Ver­ant­wor­tung. Ei­ne Stö­rung im Und wenn es doch wahr ist?““ weiterlesen

Riesenschlamassel

Joshua Cohen hat in seinem neuen Roman vieles erfunden und verfremdet, doch, wie er im Nachwort betont „Die Netanjahus blieben die Netanjahus“

Aus mei­ner Vor­lie­be Li­te­ra­tur wur­de Ge­schich­te, aus der Vor­lie­be al­ler an­de­ren für Buch­hal­tung wur­de Wirt­schafts­leh­re, und Ame­ri­ka blieb Ame­ri­ka. Ich blieb bis zum Ab­schluss­examen an der Co­lum­bia, und nach mut­lo­sem Suh­len im Dun­kel der Lehr­auf­trä­ge wur­de ich der ers­te Ju­de, der je­mals vom Cor­bin Col­lege (da­mals war die Cor­bin Uni­ver­si­ty noch ein schlich­tes Col­lege) an­ge­stellt wur­de, und da­mit mei­ne ich nicht der ers­te jü­di­sche Do­zent mit Aus­sicht auf Pro­fes­sur am His­to­ri­schen Se­mi­nar des Cor­bin Col­lege, son­dern den ers­ten Ju­den über­haupt an der ge­sam­ten Hoch­schu­le – Lehr­kör­per und, so­weit ich das be­ur­tei­len konn­te, Stu­den­ten­schaft eingeschlossen.“

Manch­mal lie­gen die Grün­de für die Aus­wahl ei­ner Lek­tü­re gar nicht so fern. Beim neu­en Ro­man des US-ame­ri­ka­ni­schen Au­tors Jo­shua Co­hen ver­spricht der Ti­tel, „Die Ne­tan­ja­hus“ Ent­hül­lun­gen und der Klap­pen­text viel Le­se­ver­gnü­gen. Wer möch­te nicht ei­ne Ge­schich­te über die Fa­mi­lie ei­nes am­tie­ren­den Mi­nis­ter­prä­si­den­ten, noch da­zu ei­nes stark um­strit­te­nen, le­sen, wenn die­se mit „überbordender Fan­ta­sie und wil­der Ko­mik (…) ein li­te­ra­ri­sches Feu­er­werk“ ent­facht? Dass sie zu­dem mit dem Pu­lit­zer Pri­ce aus­ge­zeich­net wur­de, scheint ei­ne Ne­ben­sa­che, er­wies sich al­ler­dings als ge­eig­net, um mei­nen Li­te­ra­tur­kreis zu die­sem Buch zu verleiten.

Die Ne­tan­ja­hus“ könn­te rein ober­fläch­lich als Cam­pus­ro­man „Rie­sen­schla­mas­sel“ weiterlesen

Erinnern ist Licht“

In „Ein junger Herr in Neapel“ erzählt Andrea Giovene vom Erwachen eines jungen Schriftstellers

Zur Spit­ze hin hat­ten Feuch­tig­keits­fle­cken gan­ze Ge­ne­ra­tio­nen über­wäl­tigt, sie gli­chen gan­zen Schwär­men mit ei­nem Schrot­schuss durch­sieb­ter Spat­zen. Der Baum kräu­sel­te sich, er trüb­te sich ein und schlug Wel­len. Die jüngs­ten Ge­ne­ra­tio­nen wa­ren am un­le­ser­lichs­ten. Und ich? Wie soll­te ich mich da auf sei­ner Spit­ze ein­nis­ten, die nur in die Zim­mer­de­cke hin­ein hö­her wach­sen konn­te, im Leeren?“

Dies sind die Ge­dan­ken des zu Be­ginn des Ge­sche­hens 9‑jährigen Ich-Er­zäh­lers in An­drea Gio­ve­nes (1904–1995) „Ein jun­ger Herr in Nea­pel“, dem ers­ten Teil sei­ner Ro­man­fol­ge „Die Au­to­bio­gra­phie des Giu­lia­no di San­se­vero“, wel­che in den Jah­ren 1903–1957 spielt. Als Giu­lia­no und sei­ne klei­ne Schwes­ter Chec­chi­na durch die zer­fal­len­den Fluch­ten des Fa­mi­li­en­pa­laz­zos strei­fen, ge­lan­gen sie zum Stamm­baum, „dem muf­fi­gen To­tem“, das die kom­plet­te Wand ei­nes Sa­lons ein­nimmt. Die Be­schrei­bung der ent­le­ge­nen, ver­staub­ten Räu­me er­in­nert an die Ent­de­ckungs­tour von Tancre­di und An­ge­li­ca im Som­mer­sitz der Sa­li­na. Zwar spielt Lam­pe­du­sas „Il Gat­to­par­do“ ein hal­bes Jahr­hun­dert vor „Die Au­to­bio­gra­phie des Giu­lia­no di San­se­vero“, doch steht in bei­den Ro­man­wer­ken der Zer­fall ei­nes Adels­ge­schlechts im Vor­der­grund. Ei­ne wei­te­re Par­al­le­le be­steht in der per­sön­li­chen Ver­bin­dung der Schrift­stel­ler zu ih­rem Su­jet. Giu­sep­pe To­ma­si di Lam­pe­du­sa ent­stammt ei­nem si­zi­lia­ni­schen Adels­ge­schlechts, An­drea Gio­ve­ne di Gi­ra­so­le ei­nem nea­po­li­ta­ni­schen. Die Trans­for­ma­ti­on, die Lam­pe­du­sa mit dem be­rühm­ten Satz, „Wenn al­les blei­ben soll, wie es ist, muß sich al­les än­dern“, an­deu­tet, zeigt Gio­ve­ne durch die Eman­zi­pa­ti­on sei­nes Er­zäh­lers. Bei­de Au­toren be­rich­ten vom Schick­sal ei­ner Fa­mi­lie nach ein­schnei­den­den Er­in­nern ist Licht““ weiterlesen

Durch die Rose zur Erleuchtung

In „Der Pole“ erschafft  J. M. Coetzee einen Epigonen von Homer, Dante und Goethe

Sie kennt Mar­ga­ri­ta, seit sie als Kin­der zu­sam­men auf der Non­nen­schu­le wa­ren; sie hat schon im­mer den Elan ih­rer Freun­din be­wun­dert, ih­ren Un­ter­neh­mungs­geist, ihr selbst­si­che­res Auf­tre­ten. Jetzt muss sie ih­ren Platz ein­neh­men. Was ge­nau wird es be­deu­ten, ei­nen Mann bei ei­nem flüch­ti­gen Be­such in ei­ner frem­den Stadt aus­zu­füh­ren? In sei­nem Al­ter wird er ge­wiss kei­nen Sex er­war­ten. Doch er wird si­cher er­war­ten, dass man ihm schmei­chelt, so­gar mit ihm flir­tet. Flir­ten ist kei­ne Kunst, die zu be­herr­schen sie sich je be­müht hat. Mar­ga­ri­ta ist an­ders. Mar­ga­ri­ta hat ei­nen leich­ten Zu­gang zu Män­nern. Mehr als ein­mal hat sie, Bea­triz, amü­siert be­ob­ach­tet, wie die Freun­din ih­re Er­obe­run­gen be­treibt. Aber sie hat nicht den Wunsch es ihr gleich­zu­tun. Wenn ihr Gast ho­he Er­war­tun­gen in Sa­chen Schmei­che­lei hat, wird er ent­täuscht werden.“

Die Freun­din ei­ner Freun­din er­hielt un­längst von ei­nem Mann das An­ge­bot, ei­ne sei­ner Woh­nung miet­frei zu be­zie­hen. Sie war dem An­bie­ter, den sie höchs­tens als Be­kann­ten be­zeich­nen wür­de, erst vor kur­zem be­geg­net. An­ge­nom­men hat sie die Of­fer­te nicht, da sie sei­ne „Durch die Ro­se zur Er­leuch­tung“ weiterlesen

Ich schreibe, um hart zu werden“

Anita Brookner schreibt in „Seht mich an“ präzise und herausragend über die Einsamkeit

Das all­ge­mei­ne Pu­bli­kum kennt uns kaum, was auch nicht un­be­dingt un­ser Wunsch wä­re. Wir be­sor­gen viel­mehr das Ma­te­ri­al für un­se­ren ei­ge­nen wis­sen­schaft­li­chen Mit­ar­bei­ter­stab, für aus­wär­ti­ge Fach­kol­le­gen und für die ge­le­gent­li­chen, sehr sel­te­nen Be­su­cher. Im Au­gen­blick kön­nen wir nur mit dem Er­schei­nen von Mrs. Hall­oran und Dr. Simek rech­nen. Mrs. Hall­oran ist ei­ne et­was wild drein­bli­cken­de Da­me mit ei­ner täu­schen­den Au­ra von Au­to­ri­tät, die be­haup­tet, in Kon­takt mit der über­ir­di­schen Welt zu ste­hen, und die sich be­müht, ih­re Theo­rie zu be­wei­sen, dass die meis­ten An­oma­lien im mensch­li­chen Ver­hal­ten dem Ein­fluss des Sa­turn zu­zu­schrei­ben sind. Sol­che Grenz­fäl­le be­geg­nen ei­nem sehr häu­fig in Bi­blio­the­ken. Dr. Simek ist ein un­ge­mein zu­rück­hal­ten­der Tsche­che oder Po­le (wir sind uns nicht ganz si­cher, was von bei­den, und wir mei­nen, dass es auch nicht un­se­re Sa­che ist, dem nach­zu­for­schen). An­hand ei­ner Rei­he klei­ner Kar­tei­kar­ten ar­bei­tet er über die Ge­schich­te von De­pres­sio­nen oder, wie man frü­her sag­te, der Me­lan­cho­lie. Er kommt je­den Tag. Bei­de kom­men je­den Tag, und zwar, wie ich ver­mu­te, haupt­säch­lich des­halb, weil die Bi­blio­thek so gut ge­heizt ist.“

Wer je län­ge­re Zeit in ei­ner wis­sen­schaft­li­chen Bi­blio­thek saß, hat­te ne­ben der Fach­li­te­ra­tur bis­wei­len Ge­le­gen­heit, die Le­ser an den an­de­ren Ti­schen zu stu­die­ren. De­ren skur­ri­le Ei­gen­hei­ten, die über die Wahl des Plat­zes und der An­ord­nung der Uten­si­li­en oft hin­aus­gin­gen, wa­ren stets will­kom­me­ne Ab­len­kung. Ge­mein­sam wid­me­ten sie sich ih­ren Lek­tü­ren, sie ar­bei­ten oft ne­ben­ein­an­der und auf­grund der Schwei­ge­pflicht kon­takt­los. Die­se not­wen­di­ge Ein­sam­keit setzt sich bei der Ich-Er­zäh­le­rin in Ani­ta Brook­ners Ro­man „Seht mich an“ au­ßer­halb der Bi­blio­thek fort. Sie ist nicht die ein­zi­ge Fi­gur, die die­sem Ge­fühl aus­ge­setzt ist. Ein­sam­keit ist das stärks­te Mo­tiv die­ses Ro­mans, Brook­ner va­ri­iert es viel­fäl­tig und schafft da­durch Sze­nen, die an die Bild­wel­ten Ich schrei­be, um hart zu wer­den““ weiterlesen

Pompejanische Politsatire

Eugen Ruge ist mit „Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna“ der wohl lustigste Roman über die untergegangene Stadt gelungen

Ach die Leu­te.“ Li­via zuck­te mit den Schul­tern. „Die sind so ver­gess­lich wie das Schilf! Nie­mand in­ter­es­siert sich für das, was du ges­tern ge­sagt hast. Sie wol­len wis­sen, was du heu­te sagst. Die po­li­ti­sche Wahr­heit, mein Lie­ber, ist kei­ne Fra­ge von Fak­ten und Beweisen.“

 „Ver­giss, lie­ber Le­ser, al­les, was du je­mals über Pom­pe­ji ge­hört hast.“

 Über Pom­pe­ji, die im süd­li­chen Kam­pa­ni­en ge­le­ge­ne Pro­vinz­stadt, die durch die kon­ser­vie­ren­de Wir­kung ei­nes Vul­kans im Jahr 79 n. Chr. zu Welt­ruhm ge­lang, wur­de viel ge­schrie­ben. Wis­sen­schaft­li­ches füllt gan­ze Bi­blio­the­ken. Doch auch fik­tio­na­le Li­te­ra­tur ent­stand, kaum hat­ten die Schatz­grä­ber des Bour­bo­nen-Kö­nigs ih­re Lö­cher in die ver­sun­ke­ne Stadt ge­bohrt. Das Er­stau­nen über die vor­ge­fun­de­nen, an­nä­hernd in­tak­ten Woh­nun­gen und Stadt­struk­tu­ren, ins­be­son­de­re über die Res­te der Pom­pe­ja­ner selbst, die Jah­re spä­ter Fio­rel­li durch Gips­aus­güs­se an­schau­lich mach­te, reg­ten die Phan­ta­sie vie­ler Schrift­stel­ler an. Was war wohl ge­sche­hen in den letz­ten Ta­gen der Stadt? Man­chen wie Ed­ward Bul­wer-Lyt­ton oder Ro­bert Har­ris ge­lang ein Pu­bli­kums­er­folg. Nicht sel­ten trifft man auf an Best­sel­lern ge­schul­te Ex­per­ten, die ei­nen über das de­ka­den­te Trei­ben der Pom­pe­ja­ner aufklären.

Da die schrift­stel­le­ri­sche Phan­ta­sie nie­mals en­det, wer­den auch wei­ter­hin Ro­ma­ne über Pom­pe­ji ge­schrie­ben. Der neu­es­te ist aus der Fe­der von Eu­gen Ru­ge und trägt den Ti­tel „Pom­pe­ji oder Die fünf Re­den des Jow­na“. Doch möch­te man ihn le­sen, wenn man eher die an­de­ren Bü­cher über die „Pom­pe­ja­ni­sche Po­lit­sa­ti­re“ weiterlesen

Ein Leben lang mittags Pasta und man überlebt alles“

Adriana Altaras jüdisch-deutsch-italienisches Erinnerungsbuch „Besser allein als in schlechter Gesellschaft. Meine eigensinnige Tante“

Im­mer wie­der fängt Adria­na da­von an, ich sol­le nach Deutsch­land kom­men. Dass es mir in ei­nem deut­schen Al­ters­heim schme­cken wür­de, wa­ge ich zu be­zwei­feln. Ich ha­be nichts ge­gen Kar­tof­feln, aber je­den Tag? Mei­ne Schwes­ter Thea lieb­te Kar­tof­feln. Kein Wun­der, dass sie nach Deutsch­land aus­ge­wan­dert ist. Dort ist sie auch ge­stor­ben. Ich will nicht be­haup­ten, die Kar­tof­feln hät­ten ihr ge­scha­det, aber ein län­ge­res Le­ben hat man ein­deu­tig mit Pasta.“

Die Pan­de­mie ist vor­bei, die App ab­ge­schal­tet, je­de Ein­schrän­kung auf­ge­ho­ben. In Pfle­ge­hei­men ist der Zu­gang wie­der un­ein­ge­schränkt mög­lich, le­dig­lich ei­ne Mas­ke müs­sen die Be­su­cher noch tra­gen. Wer wie ich dort ei­nen Men­schen zu be­su­chen hat­te, wird sich an die Stu­fen des Re­gle­ments gut er­in­nern kön­nen. Dem Be­suchs­ver­bot folg­te ein be­grenz­tes Ren­dez­vous an ei­ner dik­ta­tor­lan­gen Ta­fel mit Spuk­schutz­schei­be bis schließ­lich die Kom­bi­na­ti­on aus Test­pflicht, Mas­ke und ei­des­staat­li­cher Ge­sund­heits­er­klä­rung ein Zu­sam­men­sein wie­der mög­lich mach­te. Die­se Pha­sen, die den un­auf­halt­sa­men Ver­fall ei­nes Men­schen be­glei­te­ten und er­schwer­ten, be­schreibt Adria­na Al­ta­ras in ih­ren Ro­man „Bes­ser al­lein als in schlech­ter Ge­sell­schaft“. Der Ti­tel stammt aus der Schatz­kis­te ih­rer Tan­te Jel­ka. Sie lebt im ita­lie­ni­schen Man­tua, ih­re Nich­te in Ber­lin. Die eben­so fer­nen wie un­ter­schied­li­chen Städ­te wur­den für bei­de zur Hei­mat, nach­dem ih­re jü­di­sche Fa­mi­lie vor Jahr­zehn­ten Za­greb ver­ließ. Die schö­ne und stol­ze Jel­ka wur­de in ein La­ger ver­schleppt, von dort ret­te­te sie ein ita­lie­ni­scher Sol­dat und brach­te sie in sein Dorf in Nord­ita­li­en. Mehr aus Dank­bar­keit, denn aus Lie­be hei­ra­te­te sie Gi­or­gio und ar­ran­gier­te sich mit den Verhältnissen.

Durch­hal­ten, nach vor­ne schau­en und das Bes­te dar­aus ma­chen wur­den die Le­bens­prin­zi­pi­en, die der 99-Jäh­ri­gen auch in der Ca­sa di Cu­ra hel­fen. Nach ei­nem lan­gen selbst­be­stimm­ten Le­ben stahl ein Ein Le­ben lang mit­tags Pas­ta und man über­lebt al­les““ weiterlesen

Gehen und Verstehen

Andreas Schäfers „Die Schuhe meines Vaters“ ist Trauerritual und Totengesang zugleich

Ge­den­ken oh­ne Wor­te. Er­in­nern­der Ab­schied durch Wie­der­ho­lung von Hand­grif­fen und Ge­wohn­hei­ten. Ist es nicht so, als wür­de man da­bei in die Leer­form hin­ein­schlüp­fen, die der Ver­stor­be­ne hin­ter­las­sen hat?

Ich hat­te das Be­dürf­nis, We­ge des Va­ters in sei­nem Na­men zu ge­hen, in Grie­chen­land, dort wo er in den letz­ten Jah­ren sei­nes Le­bens viel­leicht am glück­lichs­ten war.“

Schu­he spie­len in die­sem Buch in zwei­fa­cher Hin­sicht ei­ne Rol­le. Zum ei­nen er­in­nern sie an die Ein­sicht, man sol­le nicht über ei­nen an­de­ren ur­tei­len, be­vor man ei­ne Wei­le in des­sen Schu­hen ge­lau­fen ist. Zum an­de­ren han­delt „Die Schu­he mei­nes Va­ters“ ganz kon­kret von den Ex­em­pla­ren, die der Sohn, An­dre­as Schä­fer, nach dem Tod sei­nes Va­ters aus dem Kran­ken­haus mit­ge­nom­men hat. Der rea­le und der über­tra­ge­ne Aspekt zei­gen sich in die­sem Er­in­ne­rungs­buch auf viel­fäl­ti­ge Wei­se, in Rück­bli­cken auf die Per­son des Va­ters, auf sei­ne Bio­gra­fie, sei­ne Prä­gun­gen und ins­be­son­de­re „Ge­hen und Ver­ste­hen“ weiterlesen

Streben nach Selbstgeißelung

In „Der gewöhnliche Mensch“ erzählt Lena Andersson Gesellschaftsgeschichte als Individualgeschichte

Er ging hin­aus in den Werk­raum, um sau­ber zu ma­chen, und fühl­te sich ein­sam, wäh­rend er dort stand und das Werk­zeug zu­rück an die rich­ti­gen Ha­ken häng­te. Er hat­te die Stim­mung ver­dor­ben, und es war an ihm, al­les wie­der­gut­zu­ma­chen. Er hat­te nicht dar­um ge­be­ten, so viel Macht zu ha­ben. Die Fa­mi­lie be­griff nicht, wie macht­los er sich fühl­te, wie tief ihn sei­ne Angst vor der Welt durch­drang, in der sie al­le vier leb­ten und er nichts an­de­res woll­te, als dass sei­ne Kin­der nicht vom Weg ab­ka­men. Er ver­such­te die Fall­gru­ben auf­zu­zei­gen, ih­nen recht­zei­tig klar­zu­ma­chen, dass es für nor­ma­le Men­schen kei­nen Spiel­raum zum Trö­deln und für Neu­an­fän­ge gab.“

Wer kennt nicht so eine*n? Ge­rech­tig­keit und Kor­rekt­heit ste­hen bei ihm an ers­ter Stel­le. Al­les wird re­gu­liert und re­gle­men­tiert. Er trinkt nicht, isst ge­sund, fährt nie weg und gibt kaum Geld aus. Sein Hang zur As­ke­se zeigt sich je­doch nicht nur im Kon­sum, son­dern auch im Den­ken, das durch in­ne­re Selbst­kon­trol­le auf engs­ten Bah­nen ver­läuft. Ein sol­ches Le­ben ver­kör­pert das pie­tis­ti­sche Ide­al des Schma­len Wegs. Steil und stei­nig führt er auf den An­dachts­bil­dern ganz nach oben, wo die Folg­sa­men im Him­mel das er­hof­fen, was sie sich auf Er­den ver­sa­gen. An­de­re fin­den auf be­que­me­ren Pfa­den Lust, Ge­nuss und Freu­de. Es mag sein, daß sie das pie­tis­ti­sche Pa­ra­dies nie er­rei­chen, doch wie heißt es so schön, der Weg ist das Ziel.

Rag­nar Jo­hans­son, der Held in Le­na An­ders­sons neu­em Ro­man „Der ge­wöhn­li­che Mensch“ lebt, ob­schon als schwe­di­scher So­zi­al­de­mo­krat athe­is­tisch, die kar­ge Va­ri­an­te. Am Bei­spiel die­ses Zeit­ge­nos­sen liest die zwi­schen Mit­leid und Ab­nei­gung schwan­ken­de Le­se­rin ei­ne Chro­nik der „Stre­ben nach Selbst­gei­ße­lung“ weiterlesen

So könnte es gewesen sein“

In einer dunkelblauen Stunde“ errichtet Peter Stamm „ein verwinkeltes Gedankengebäude“, in dem die Leserin „auf Entdeckungstour geht“

Nicht der Au­tor er­zählt, al­le Men­schen und Er­eig­nis­se erzählen.“
„Es geht beim Schrei­ben nicht dar­um, et­was zu ma­chen, son­dern et­was zu finden.“
„Die Wirk­lich­keit schreibt kei­ne Ge­schich­ten. In der Fik­ti­on kann man nicht le­ben, aber auch nicht sterben.“

Wel­che Er­war­tun­gen weckt Li­te­ra­tur? Wie wirkt sie? Wie kann man dar­über re­den? Fra­gen, die sich mir beim Le­sen und Schrei­ben stel­len und die wäh­rend un­se­rer Dis­kus­sio­nen im Li­te­ra­tur­kreis oft gro­ße Ver­blüf­fung aus­lö­sen. Wer sich mit his­to­ri­schen Tex­ten be­schäf­tigt, neigt zur Ana­ly­se. Wer hat wann was wem und vor al­len Din­gen war­um ge­sagt? Erst wenn dies ge­klärt ist, kann man Rück­schlüs­se zie­hen und in­ter­pre­tie­ren. Bei ei­nem li­te­ra­ri­schen Text al­ler­dings kann die Ana­ly­se be­reits die In­ter­pre­ta­ti­on sein, falls er so ge­baut ist wie Pe­ter Stamms Ro­ma­ne al­le­mal. Die elen­de Gret­chen­fra­ge „was will uns der Au­tor da­mit sa­gen“ führt bei Stamm ins La­by­rinth, Ari­ad­ne­fa­den nicht in Sicht.

Pünkt­lich zu sei­nem sech­zigs­ten Ge­burts­tag legt der Schwei­zer Pe­ter Stamm sei­nen neu­en Ro­man vor. Das Ge­schenk an sich selbst wie an sei­ne Le­ser raunt ge­heim­nis­voll „In ei­ner dun­kel­blau­en Stun­de“ und ist in ei­nem be­son­de­ren Pa­pier ver­packt, wel­ches das Por­trät „Pe­ter Stamm“ der Ma­le­rin An­ke Dober­au­er zeigt. Als Schrift­stel­ler be­kannt wur­de Stamm durch So könn­te es ge­we­sen sein““ weiterlesen