Mittelalterliches Mirakel oder wie Piper mir ein Zeichen sandte

Die Welfenkaiserin“ – Martina Kempffs mittelalterliche Frauenpower

Uuaaaahhhh, zu Be­ginn hat’s mich ganz ge­wal­tig ge­graust. Nicht vor der im­mer noch als fins­te­res Mit­tel­al­ter in den Köp­fen her­um­schwir­ren­den Epo­che, son­dern vor dem His­to­ri­schen Ro­man, der letz­ten Le­se­auf­ga­be un­se­res Literatur-Kreises.

Mit der Wel­fen­kai­se­rin soll­te ich nun al­so ins frü­he Mit­tel­al­ter hin­ab­tau­chen ge­nau­er an den Hof des Ka­ro­lin­gers Lud­wigs I., ge­nannt der From­me. Mir schwan­te nichts Gu­tes. Ein­ge­schla­ge­ne Köp­fe, ver­ge­wal­tig­te Frau­en, tot­ge­bo­re­ne Kin­der, meist in die­ser Chro­no­lo­gie, auf­ge­lo­ckert von ex­pli­zi­ten Gräu­el­ta­ten und def­ti­gen Sex­sze­nen, sind das Holz aus dem His­to­ri­sche Ro­ma­ne ge­schnitzt sind. So die Ein­sich­ten, die mich längst zu­rück lie­gen­de Le­se­er­fah­run­gen lehr­ten. Die Ti­tel­ge­bung weckt zu­dem Re­mi­nis­zen­zen an Bü­cher, von de­nen ich ei­gent­lich über­haupt nichts wis­sen will.

Nun denn, es ward be­stellt und auf­ge­blät­tert. Dies je­doch nicht auf der ers­ten Sei­te, son­dern an ei­ner Stel­le, die der Ver­lag mir mar­kiert hat­te. Ge­nau zwi­schen Sei­te 116 und 117 lag das als Post­kar­te ge­tarn­te Zei­chen an die vor­ur­teils­rei­che Historikerin.

Sprach­los blick­te der Kai­ser auf die nackt vor ihm ste­hen­de Frau. Nicht ein­mal der Schreck über den ho­hen Leib ver­hin­der­te das so­for­ti­ge Ein­set­zen sei­ner Begierde.“

Sprach­los auch ich, Wun­der und Zei­chen in ei­nem Mit­tel­al­ter­ro­man, wer hät­te das gedacht.

Auch im wei­te­ren Ver­lauf la­gen die Lei­ber hie und da bei­ein­an­der, doch die an­de­ren Er­schei­nun­gen blie­ben weit­ge­hend aus. Köp­fe wur­den dis­kret ab­ge­schla­gen, Fol­ter­rei­en ne­ben­her er­le­digt, Ver­ge­wal­ti­gun­gen so­fort wie­der ver­ges­sen und schwe­re Ge­bur­ten fan­den hin­ter ver­schlos­se­nen Tü­ren statt. Uffa!

Mar­ti­na Kempff stellt Ju­dith, die Toch­ter des Gra­fen Welf aus dem schwä­bi­schen Alt­dorf, in den Mit­tel­punkt ih­res Ro­mans. Sie zeich­net das Le­ben der an­ge­hen­den Kai­se­rin von der Braut­schau bis zu ih­rem Tod. Ei­ne Wel­fen­kai­se­rin war und wur­de sie al­ler­dings nicht, son­dern ei­ne Fran­ken­kai­se­rin oder bes­ten­falls Ka­ro­lin­ger­kai­se­rin. Die Frau­en­ge­stal­ten ste­hen in die­sem Ro­man im Vor­der­grund. Die po­li­ti­schen Zeit­läuf­te, Lud­wigs Rin­gen um die Ein­heit des von Karl dem Gro­ßen auf ihn ge­kom­me­nen Groß­rei­ches, Ver­wal­tungs­re­for­men und Erb­fol­ge­re­ge­lun­gen ein­ge­schlos­sen, bil­den das Ge­rüst. In die­ses bet­tet Kempff das Schick­sal der jun­gen, schö­nen aber oft viel zu mo­dern wir­ken­den Kai­se­rin. Nicht die In­tri­gen um Macht und Ge­winn bil­den die Es­senz die­ses Ro­mans son­dern das Per­sön­li­che. Wie füg­te sich die zwar durch­set­zungs­fä­hi­ge, aber un­er­fah­re­ne Frau in die Ge­folg­schaft des Kai­sers? Wie er­trug sie Ma­ni­pu­la­ti­on, Lie­be und Leid?

Die­se Rol­len als Ge­lieb­te und als Mut­ter sind ty­pi­sche Frau­en­bil­der, die Kempff ihr je­doch in ei­ner viel zu eman­zi­pier­ten Wei­se auf den Leib schreibt. Das stört mich und das emp­fin­de ich als ahis­to­risch. Trotz al­ler Quel­len kön­nen wir nicht wis­sen, wie es da­mals zu­ge­gan­gen ist in den Kam­mern und Zel­ten des Pa­la­ti­ums. Aber Frau­en des frü­hen Mit­tel­al­ters, die wie toug­he Ver­tre­te­rin­nen der Ge­ne­ra­ti­on Face­book auf­tre­ten, wir­ken un­glaub­wür­dig. Das ist oft das größ­te Man­ko des His­to­ri­schen Ro­mans, des­sen Fans ger­ne die gu­te Re­cher­che ih­rer Au­toren anführen.

Die­se Au­torin hält sich an die Fak­ten aus Wi­ki­pe­dia und der äl­te­ren Se­kun­där­li­te­ra­tur, die sie als „Quel­len“ auf­führt. Ei­ne der pri­mä­ren Quel­len, der bio­gra­phi­sche Be­richt ei­nes an­ony­men Ver­fas­sers, des so­ge­nann­ten As­tro­no­mus, in­spi­rier­te sie wohl je­dem Ro­man­ka­pi­tel ei­ne Chro­nik vor­an­zu­stel­len. Die­se um­fasst die Er­eig­nis­se ei­ner an­ge­ge­be­nen Zeit­span­ne und setzt so das Ge­sche­hen in ei­nen his­to­ri­schen Zu­sam­men­hang. Ver­fas­se­rin die­ser auf mit­tel­alt ge­mach­ten, aber doch mit mo­der­nen Be­grif­fen aus­ge­stat­te­ten Chro­nik ist ei­ne eben­falls an­ony­me As­tro­no­ma ali­as Mar­ti­na Kempff.

Doch was will mir die­ses Buch ver­mit­teln? Le­se ich es um mich der his­to­ri­schen Epo­che an­zu­nä­hern? Dem Le­bens­ge­fühl „Mit­tel­al­ter“, oder bes­ser dem, was man land­läu­fig dar­un­ter ver­steht dank der Hor­den ost­eu­ro­päi­scher Schau­spiel­sta­tis­ten un­ter der Fan­ta­sie ei­nes ge­wis­sen Fernsehhistorikers?

Für mein Emp­fin­den blei­ben die Per­so­nen des Ro­mans selt­sam blass, sie durch­le­ben kaum ei­ne Ent­wick­lung und die­nen nur als Fi­gu­ren um die Il­lus­tra­ti­on des Mit­tel­al­ters zu be­völ­kern. Mich ha­ben sie kalt ge­las­sen, so kalt wie zu­ge­fro­re­ne Tei­che, in die sie äu­ßerst ger­ne auf me­ta­pho­ri­sche Wei­se blicken.

Wem die­ser Ro­man ge­fal­len hat, mag noch „Die Beu­te­frau“ le­sen, der das Le­ben Gerswinds und da­mit die An­fän­ge der Ka­ro­lin­ger­herr­schaft schildert.

Wer wis­sen möch­te, war­um Karl der Kah­le wirk­lich so hieß, bli­cke in „War Karl der Kah­le wirk­lich kahl?“ von Rein­hard Lebe.

Wer sich his­to­risch für die­se Zeit in­ter­es­siert, dem sei die Bio­gra­phie „Lud­wig, der From­me“ des His­to­ri­kers Egon Bos­hof emp­foh­len. Sie setzt sich kri­tisch, aber gut les­bar mit den zur Ver­fü­gung ste­hen­den Quel­len und For­schun­gen zu die­sem Ka­ro­lin­ger aus­ein­an­der. Ga­ran­tiert gut recherchiert.

Wer lie­ber hö­ren und se­hen und nicht le­sen möch­te, der sei auf die „Ein­füh­rungs­vor­le­sung Mit­tel­al­ter“ von Stuart Jenks ver­wie­sen, die die­ser an der Uni­ver­si­tät Er­lan­gen-Nürn­berg ge­hal­ten hat. Sie ist in der Me­dia­thek der Uni­ver­si­tät als Au­dio- und Vi­deo­down­load abrufbar.

Jenks be­rich­tet fun­diert und kurz­wei­lig von der bun­ten Viel­falt der an­geb­lich so dunk­len Zei­ten und zieht zu­dem Ver­glei­che zu äu­ßerst mo­der­nen Vor­komm­nis­sen, sei­en es Ban­ken- oder Fußballkrisen.

Mar­ti­na Kempff, Die Wel­fen­kai­se­rin, Pi­per Ver­lag, 2009

Von Pans Arkadien zu Pans Labyrinth

Wie die Manipulation eines Einzelnen zur manipulierten Gesellschaft führt zeigt Benjamin Stein in „Replay

Ei­ne schö­ne Ge­schich­te. Aber wor­auf, fra­ge ich Man­t­a­na, willst du ei­gent­lich hin­aus? Auf nichts, ant­wor­tet er prompt. Aber das ist na­tür­lich ge­lo­gen. Ich ha­be noch nie er­lebt, dass er so weit aus­ge­holt hät­te, oh­ne mir et­was Be­stimm­tes mit­tei­len zu wollen.“

Gleich zu Be­ginn be­geg­nen wir ihm schon, Pan, dem Wald­gott der grie­chi­schen My­tho­lo­gie, der in sei­ner Gier Zie­gen, Nym­phen und Kna­ben be­springt, al­so al­les, was nicht bei drei auf den Bäu­men ist. Ed Ro­sen, der Prot­ago­nist von Ben­ja­min Steins Uto­pie er­blickt ihn zum ers­ten Mal in ei­ner Kunst­aus­stel­lung. Viel­mehr er­in­nert er sich, wie er die Ab­bil­dung des trieb­haf­ten Na­tur­got­tes auf den Bil­dern des Künst­lers Hay­man be­wun­der­te. Ro­sen be­wegt sich wäh­rend des gan­zen Ge­sche­hens in sei­nen Er­in­ne­rungs­bil­dern und stat­tet dar­über Be­richt ab. Er­staunt über die Leich­tig­keit mit der sich selbst ein in­tel­li­gen­ter Mensch ma­ni­pu­lie­ren lässt, ver­fol­gen wir sei­ne Ver­wand­lung. Aus dem äu­ßer­lich ver­nach­läs­sig­ten, aber den­noch ge­nia­len Wis­sen­schaft­ler wird nach ei­nem Vor­her-Nach­her-Pro­gramm, das wahl­wei­se dem Mär­chen oder ei­ner Frau­en­zeit­schrift ent­stam­men könn­te, ein fit­ness­ge­stähl­ter Kör­per- oder bes­ser Fuß­fi­xier­ter. Auch sein Hirn, wel­ches sei­nem neu­en Chef und Ma­ni­pu­la­tor Man­t­a­na zu­nächst zur Ent­wick­lung der all­macht­ver­hei­ßen­den Tech­no­lo­gie Uni­Com ver­hilft, ver­än­dert sich all­mäh­lich. Als Trä­ger des Uni­Com, ei­nes Im­plan­tats, das so­wohl ei­ge­ne Er­in­ne­run­gen als auch die an­de­rer Trä­ger spei­chern und ver­net­zen kann, scheint Ro­sen all­mäh­lich die Kon­trol­le über sich und über die Un­ter­schei­dung zwi­schen rea­ler und vir­tu­el­ler Welt zu verlieren.

Ben­ja­min Stein schil­dert die Me­ta­mor­pho­sen sei­nes Hel­den auf sehr span­nen­de Wei­se. Be­son­ders die ers­ten bei­den Drit­tel der Ge­schich­te ha­ben mir gut ge­fal­len. Sie re­gen an sich mit ver­schie­de­nen For­men der Ma­ni­pu­la­ti­on aus­ein­an­der zu set­zen, die ge­ra­de auch in den neu­en Tech­no­lo­gien ver­bor­gen lie­gen. Al­ler­dings geht es nicht sehr in die Tie­fe. Über psy­cho­lo­gi­sche und phi­lo­so­phi­sche Wahr­neh­mungs­theo­rien hät­te ich ger­ne mehr er­fah­ren. Die um­ständ­li­chen tech­no­lo­gi­schen Er­klä­run­gen hin­ge­gen ha­ben mich et­was er­mü­det. Nerds und Ge­eks wer­den sie er­freu­en und die­se Spe­zi­es wird sich wohl auch wie wei­land bei Ro­bert A. Wil­sons und Ro­bert She­as Il­lu­mi­na­tus-Tri­lo­gie an den ero­ti­schen Sze­nen delektieren.

Al­te und neue My­then, Li­te­ra­tur- und Film­zi­ta­te so­wie zahl­rei­che phi­lo­so­phi­sche Ver­wei­se über­schwem­men die­sen schma­len Ro­man. Viel­leicht regt er zur wei­te­ren Lek­tü­re an, mei­net­we­gen auch in vir­tu­el­len Büchern.

Dem un­ter­halt­sa­men Ro­man fehlt es nicht an Iro­nie, wie die zahl­rei­chen Sei­ten­hie­be auf Life­sty­ler, Lat­te-Mac­chia­to-Kon­su­men­ten und Dis­li­ke-But­ton-Be­tä­ti­ger zeigen.

Nur ob das pul­sie­ren­de blaue Licht an den Schlä­fen der Uni­Com-Trä­ger ei­ne Hom­mage oder ei­ne Ve­r­appleung sein soll, bleibt un­klar. Mich er­in­nert es je­den­falls an mein klei­nes schla­fen­des MacBook.

Ben­ja­min Stein, Re­play, Beck Ver­lag, 1. Aufl. 2012

Ehen eines Empfindsamen

Aufschlussreiche Beziehungsbiographie — „Hesses Frauen“ von Bärbel Reetz

Für den Künst­ler, über­haupt für den be­gab­ten Phan­ta­sie­men­schen, ist die Ehe bei­na­he im­mer ei­ne Ent­täu­schung. Im bes­ten Fall ist es ei­ne lang­sa­me, er­träg­li­che, mit der man sich halt ab­fin­det, aber es stirbt da­bei, oh­ne viel Schmer­zen, ein Stück See­le und Le­bens­kraft ab, und wir sind nach­her är­mer, wäh­rend wir nach dem Er­le­ben ei­nes ech­ten gro­ßen Schmer­zes eher rei­cher sind.“ Her­mann Hes­se, nach Reetz, S. 288.

Ei­ne Ju­gend oh­ne Her­mann Hes­se ist denk­bar aber un­wahr­schein­lich. Auch ich kann mich an die Lek­tü­re von „Nar­ziß und Gold­mund“ er­in­nern und ver­bin­de da­mit ge­gen­sei­ti­ges Vor­le­sen in ei­ner ei­gen­tüm­lich schwär­me­ri­schen Stim­mung, die mich seit­dem kaum noch be­fal­len hat. Vie­le Jah­re spä­ter be­geg­ne­te mir der Au­tor in sei­nem pie­tis­ti­schen Mi­lieu, das mich aus his­to­ri­schen Grün­den in­ter­es­sier­te. Zu die­ser Zeit las ich ei­ni­ge bio­gra­phi­sche Wer­ke und wun­der­te mich oft über die Dar­stel­lung von Hes­ses ers­ter Ehe­frau Mia. Dass die psy­chisch Kran­ke eher un­ter ih­rer Ehe als un­ter Neu­ro­sen oder Psy­cho­sen litt, schien sehr wahrscheinlich.

Bär­bel Reetz lie­fert nun die Fak­ten. In gründ­li­cher Re­cher­che und Quel­len­ar­beit hat sie Her­mann Hes­ses Be­zie­hun­gen zu sei­nen Frau­en durch­leuch­tet und legt mit „Hes­ses Frau­en“ ei­ne span­nend ge­schil­der­te Be­zie­hungs­bio­gra­phie vor. Der chro­no­lo­gi­sche Auf­bau folgt Hes­ses Ehen, 1904 mit Ma­ria Ber­noul­li, 1924 mit Ruth Wen­ger und 1931 mit Ni­non Dol­bin. Auch die nicht of­fi­zi­ell An­ge­trau­ten, den­noch kaum als Ge­lieb­te zu be­zeich­nen­den, fin­den Er­wäh­nung, Eli­se, Ju­lie Hell­mann, Eli­sa­beth La Ro­che, Eli­sa­beth Rupp.

Frü­he Bio­gra­phen spa­ren Hes­ses Frau­en­be­zie­hun­gen aus oder las­sen le­dig­lich Maria/Mia, sei­ne ers­te Frau und Mut­ter der drei ge­mein­sa­men Söh­ne, in wenn auch frag­li­chem Licht er­schei­nen. Um vie­les prä­zi­ser ana­ly­siert Reetz ge­ra­de die­se ers­te Ehe Hes­ses. Ist man zu Be­ginn scho­ckiert über die an­schei­nen­de Ge­fühls­käl­te Hes­ses ge­gen­über sei­ner Frau und fast noch mehr ge­gen­über den von ihm als stö­rend oder zu­min­dest gleich­gül­tig emp­fun­den Kin­dern, so er­lebt man am En­de des Bu­ches, wie Hes­se sich im Al­ter um so stär­ker Mia und sei­nen Söh­nen zu­wen­det. Es war al­so wohl we­ni­ger ei­ne Ge­fühls­käl­te als ei­ne Ge­fühls­un­ter­drü­ckung. Letzt­lich mag sie dem pie­tis­ti­schen Mi­lieu sei­ner Kind­heit und Ju­gend ge­schul­det sein, das ihn nach­hal­tig prägte.

Die­se Schluss­fol­ge­rung klingt auch in Reetz’ Über­le­gun­gen zum Ver­hal­ten Her­mann Hes­ses an. Be­zie­hun­gen zu Frau­en un­ter­hielt er lie­ber aus der Di­stanz, zu viel Nä­he emp­fand er als stö­rend, von Ero­tik kaum ei­ne Spur. Ein as­ke­ti­sches, fast ein­sied­le­ri­sches Künst­ler­le­ben, in dem es durch­aus re­gen Aus­tausch mit Freun­den und Ge­sel­lig­keit gab. Aber im­mer wie­der auch Rück­zug und Flucht. Zu­viel Nä­he, auch ero­ti­sche, muss er als be­droh­lich emp­fun­den ha­ben. Um­so mehr er­staunt es, daß sich Frau­en von ihm an­ge­zo­gen fühl­ten. Viel­leicht wird dies ver­ständ­lich, wenn wir uns dar­an er­in­nern, daß Hes­ses Schrif­ten vor al­lem im ori­en­tie­rungs­su­chen­den Al­ter der Pu­ber­tät als Or­te des Ver­ste­hens emp­fun­den wer­den. Hes­se als Men­schen­ver­ste­her, der die­sen dann doch nicht all­zu na­he kom­men möchte?

Bär­bel Reetz schil­dert wie er sich von sei­nen bei­den spä­te­ren Frau­en Ruth und Ni­non, bei­de we­sent­lich jün­ger als er, ge­ra­de­zu ein­ge­fan­gen fühl­te. Ein ge­fan­ge­ner Vo­gel, der sich ei­nem Kä­fig der Zwei­sam­keit ver­wei­gert, um das un­ab­hän­gi­ge Le­ben ei­nes Ein­zel­nen zu füh­ren. Wor­auf auch beim Be­woh­nen ei­nes ge­mein­sa­men Hau­ses ge­ach­tet wird. War­um er sich trotz­dem hei­ra­ten ließ, lässt sich aus den viel­fäl­ti­gen An­ga­ben, die die Au­torin har­mo­nisch und schlüs­sig zu die­ser Be­zie­hungs­bio­gra­phie kom­po­niert, er­ah­nen. Al­len drei Frau­en war ge­mein­sam, daß sie, je­de auf ih­re Wei­se, dem Dich­ter den schnö­den All­tag und des­sen ba­na­le Sor­gen vom Leib hielten.

Be­reits Mia macht sehr vie­le, zu vie­le Zu­ge­ständ­nis­se. Ih­re Be­dürf­nis­se und die der Kin­der soll­ten sei­ner künst­le­ri­schen Krea­ti­vi­tät nicht im We­ge ste­hen. Der an Me­nin­gi­tis er­krank­te Mar­tin wird kur­zer­hand in Pfle­ge ge­ge­ben, da­mit er nicht die Dich­ter­ru­he stö­re. Dass Hes­se da­durch er­heb­lich die Ge­füh­le Mi­as und sei­nes Soh­nes ver­letzt, scheint ihn nicht zu hem­men. Dies em­pört be­son­ders, da er die meis­te Zeit un­ter­wegs ist. Er ent­zieht sich, lässt Mia al­lei­ne mit Ar­beit und Sor­gen und be­schreibt ihr auf Post­kar­ten, wie schön er es doch an sei­nen Rei­se­zie­len ha­be. Dass sei­ne Frau schließ­lich nach lang­jäh­ri­gem Er­tra­gen die­ser Zu­stän­de de­pres­si­ve Zu­sam­men­brü­che er­lei­det, ver­wun­dert nicht.

Ge­fan­ge­ner Vo­gel, be­mut­ter­tes Kind, emp­find­li­cher Hy­po­chon­der, ins­ge­samt ist der Dich­ter kein ein­fa­cher Mensch. Sucht er in sei­nen Ehe­frau­en sei­ne Mut­ter Ma­rie Hes­se? Die Toch­ter des Sprach­for­schers und Mis­sio­nars Her­mann Gun­dert und der von Cal­vi­nis­ten ab­stam­men­den Ju­lie Du­bo­is be­schreibt Hu­go Ball, der ers­ter Bio­graph Hes­ses, als stren­ge kon­trol­lier­te Pie­tis­tin, die ihr Ge­fühls­le­ben und ih­re Per­sön­lich­keit der Ver­brei­tung des Evan­ge­li­ums un­ter­ord­ne­te. Der schma­le Weg führt ins Him­mel­reich, Ge­nuss und Selbst­ver­wirk­li­chung lie­gen nicht an sei­ner Sei­te. Hes­se ver­sucht sich von die­sem pie­tis­ti­schen Ein­fluss zu be­frei­en, wir le­sen dies in sei­nen Ro­ma­nen. Un­ter­stüt­zung sucht er bei sei­nen The­ra­peu­ten Fraen­kel, Lang und Nohl. Als sei­ne Frau eben­falls die Hil­fe Nohls in An­spruch nimmt, zeigt er we­nig Ver­ständ­nis. Sie, die zur Be­wäl­ti­gung ih­rer Pro­ble­me ei­gent­lich sei­ne Un­ter­stüt­zung be­nö­tigt hät­te, be­zeich­net er auch Jah­re spä­ter als Wahn­sin­ni­ge, die durch ih­re Zu­stän­de die Ehe zer­stört habe.

Ruth Wen­ger, ei­ne rei­che Bür­gers­toch­ter wird Hes­ses zwei­te Frau. Sie schwärmt für ihn seit dem Ken­nen­ler­nen in Mon­tagno­la. Er ver­sucht im­mer wie­der sich ihr zu ent­zie­hen, bleibt aber schließ­lich in ih­ren Fän­gen haf­ten. Nur zäh­men lässt er sich kei­nes­wegs. Er wehrt sich ve­he­ment ge­gen al­le Bür­ger­lich­keit, ver­wei­gert sich aber­mals dem Fa­mi­li­en- und Zu­sam­men­le­ben. Ih­ren un­er­füll­ten Kin­der­wunsch kom­pen­siert Ruth mit ei­ner Me­na­ge­rie. Sie be­klagt sich, weil Hes­se sich wei­gert ein ge­mein­sa­mes Le­ben zu füh­ren, ei­ne rich­ti­ge Ehe. Und kon­sta­tiert, die idea­le Part­ne­rin müs­se sehr stark oder hün­disch sein.

Was Hes­se von der Fer­ne liebt, mei­det er in der Nä­he. Ver­wand­te oder Ehe­leu­te emp­fin­det er als stö­rend, zu Freun­den pflegt er bes­se­re Be­zie­hun­gen. Er sei „ein schlech­ter und un­ge­eig­ne­ter Ver­wand­ter, da­ge­gen ein gu­ter und treu­er Freund“. HH, nach Reetz, S. 234.

Ni­non Aus­län­der sen­det als jun­ges Mäd­chen nach der Lek­tü­re von „Pe­ter Ca­men­zind“ dem Au­tor ei­nen be­geis­ter­ten Brief. Hes­se lässt den Brief­kon­takt zu, ein Tref­fen lehnt er je­doch ab. Nach Hei­rat mit Do­b­lin und lan­gen Jah­ren War­te­zeit wird auch Ni­non Frau Hes­se. Sie hat ihr Idol er­obert, doch sei­ne Lau­nen und Wut­aus­brü­che wird auch sie er­tra­gen ler­nen. Sie woh­nen in den ers­ten Jah­ren ge­mein­sam in der Ca­sa Ca­muz­zi, aber in un­ter­schied­li­chen Zim­mern auf un­ter­schied­li­chen Stock­wer­ken in un­ter­schied­li­chen Flü­geln. Zet­tel­bot­schaf­ten re­geln die spär­li­che Zwei­sam­keit. Ein Ehe­le­ben lässt sich das kaum nen­nen. Auch Ni­non ent­zieht sich, folgt ih­ren kunst­his­to­ri­schen und ar­chäo­lo­gi­schen In­ter­es­sen auf Rei­sen rund ums Mit­tel­meer. Im­mer­hin liest sie je­den Abend vor, bis zu sei­nem Tod aus 1447 Büchern.

Hes­ses Frau­en­be­zie­hun­gen bil­den den Schwer­punkt des Bu­ches, aber man er­fährt bei der Lek­tü­re vie­les mehr. Reetz ver­knüpft die bio­gra­phi­schen De­tails mit Schlüs­sel­sze­nen und –fi­gu­ren aus Hes­ses Ro­ma­nen und er­in­nert an sei­nen lo­cke­ren Um­gang mit Per­sön­lich­keits­rech­ten. Den Mensch Hes­se er­le­ben wir in sei­nen Selbst­zwei­feln und sei­nen Pro­ble­men. Im­mer wie­der bre­chen sei­ne jä­hen Ge­füh­le aus, de­nen die je­wei­li­gen Be­glei­te­rin­nen als Blitz­ab­lei­ter die­nen müs­sen. Ih­re un­ter­stüt­zen­de Wirk­sam­keit weiß er al­ler­dings oft nicht zu würdigen.

Und doch ist er ei­nem auch wie­der sym­pa­thisch, der ein­sa­me Dich­ter, der sich fremd fühlt, ge­ra­de dann, wenn er un­ter Men­schen ist, auf Le­se­rei­sen aus sei­nen Wer­ken vor­liest, um da­nach mit an­se­hen zu müs­sen „wie sie Schnit­zel und Blut­wurst fres­sen und sitzt so fremd und ent­behr­lich da­zwi­schen, daß ei­nem das in­ners­te Herz friert“, HH, nach Reetz, S. 286.

Mit „Hes­ses Frau­en“ hat Bär­bel Reetz ei­ne auf­schluß­rei­che Er­gän­zung zur Hes­se-Bio­gra­phie vor­ge­legt, die in Hes­ses 50. To­des­jahrs dar­an er­in­nert, daß auch no­bel­preis­tra­gen­de Dich­ter nur Men­schen sind.

Er­schie­nen ist der Ti­tel als In­sel Ta­schen­buch in be­son­de­rer Auf­ma­chung. Ori­gi­nal­zi­ta­te er­gän­zen als „Stim­men“ die Ka­pi­tel. Fo­tos, auch aus Pri­vat­ar­chi­ven der Hes­se Nach­fah­ren il­lus­trie­ren den Text­teil. Im An­hang bie­ten ne­ben ei­ner aus­führ­li­chen Zeit­ta­fel, Personen‑, Literatur‑, Quel­len- und In­halts­ver­zeich­nis, wei­te­re Er­läu­te­run­gen Ein­bli­cke in die Re­cher­che­ar­beit der Autorin.

Bär­bel Reetz, Hes­ses Frau­en, In­sel Ver­lag, 1. Aufl. 2012
 

Hin­ge­wie­sen sei noch auf ei­nen Auf­tritt der Au­torin Bär­bel Reetz in „Li­te­ra­tur im Foy­er”. Dort dis­ku­tiert sie un­ter der Lei­tung von Fe­li­ci­tas von Loven­berg mit Jo Bai­er, Pe­ter Härt­ling und Heimo Schwilk über Her­mann Hesse.

Wühlen im Gestrüpp der Vergangenheit

In „Das Liebesspiel“ schreibt Dawn Tripp vom Scrabblespielen und Origamifalten

Scrabble.“…„Fünf Be­deu­tun­gen als Verb,“ sag­te ich. „Vier, mei­ne ich, als Sub­stan­tiv. Krat­zen und wüh­len. Sich pla­gen, krab­beln und krit­zeln. Ge­strüpp kann es auch hei­ßen – als Sub­stan­tiv, wie ge­sagt. Aber das Spiel stand nicht als Be­deu­tung dabei.“

So wie man beim Scrabb­le vor ei­ner Men­ge Buch­sta­ben sitzt und an­ge­strengt über­legt, wie man aus die­sen ein ein­zi­ges Wort kom­po­nie­ren kann, war auch der Ver­such zum ver­wi­ckelt kon­stru­ier­ten neu­en Ro­mans von Dawn Tripp ei­ne Re­zen­si­on zu ver­fas­sen nicht unanstrengend.

Die­ses Buch er­zählt die Ge­schich­te der Frau­en Ada und Ju­ne, die sich auf­grund ver­gan­ge­ner Er­eig­nis­se ei­gent­lich has­sen müss­ten, sich je­doch sehr na­he sind. Ada war einst die Ge­lieb­te von Ju­nes Va­ter und der Grund, wes­halb die­ser sich von sei­ner Ehe­frau trenn­te. Sei­ne Toch­ter Ja­ne sah er je­doch nach wie vor re­gel­mä­ßig bis er 1957 ei­nes Ta­ges spur­los ver­schwand. Als fünf Jah­re spä­ter beim Bau der neu­en Stra­ße ein Schä­del mit Ein­schuss­loch ent­deckt wird ist klar, daß Luce nie mehr auf­tau­chen wird. Wer die­se Mord­tat ver­rich­tet hat, scheint den Be­woh­nern des klei­nen Or­tes eben­so klar, Si­las, der ge­walt­tä­ti­ge und ei­fer­süch­ti­ge Ehe­mann Adas.

Dies ist die Aus­gangs­la­ge der Ge­schich­te, de­ren Haupt­hand­lung im Jahr 2004 spielt. Ada und Ja­ne sind nun zwei al­te Da­men, die sich wö­chent­lich zum Scrabb­le­spiel tref­fen wäh­rend ih­re er­wach­se­nen Kin­der ei­ge­ne We­ge ge­hen. Die jüngs­te Toch­ter Ju­nes, Mar­ne, hat ihr Weg wie­der nach Hau­se in ei­ne klei­ne Pro­vinz­stadt Neu­eng­lands ge­führt, wi­der­wil­lig, strebt sie doch eher in die wei­te Welt. Aber das selt­sam, ver­rück­te Ver­hal­ten der Mut­ter weck­te ihr Ver­ant­wor­tungs­ge­fühl und den Wunsch für die­se da zu sein. Nun sitzt sie in dem Küs­ten­ort, kell­nert, rutscht in al­te Rol­len­mus­ter und ver­liebt sich. Aus­ge­rech­net in Ray, den Sohn Adas, für den sie schon als Teen­ager schwärmte.

Die bei­den an­de­ren Haupt­per­so­nen des Ro­mans, Ada und Ja­ne, ver­bin­det das Ver­schwin­den Luces, die Ver­liebt­heit ih­rer bei­den Kin­der und wei­te­re trau­ma­ti­sche Er­eig­nis­se. Viel­fäl­ti­ge Par­al­le­len, die stets von Lie­be und Ver­lust handeln.

Dies al­les ge­schieht im som­mer­li­chen Küs­ten­licht. Tripp er­zeugt in stim­mungs­vol­len Sät­zen die At­mo­sphä­re des Som­mers, sie schil­dert die Land­schaft, die Ve­ge­ta­ti­on, das Was­ser in bild­haf­ter Poe­sie. Die Hit­ze auf der Haut sitzt man so am Meer oder auf dem Pick-up, ist bei der Heu­ern­te oder har­pu­niert ei­nen Schwert­fisch, fal­tet Hun­der­te von Ori­ga­mi­vö­geln, spielt Mi­ni­golf oder doch meist Scrabb­le. Wo­bei man stets ver­sucht ist, aus den im Spiel ge­leg­ten Wor­ten die Grün­de des Ge­sche­hens zu deu­ten. Wei­te­re Hin­wei­se las­sen sich aus den li­te­ra­ri­schen Ein­spreng­seln le­sen. Zi­tiert wer­den Frag­men­te aus „Wind­ab­ge­wor­fe­nes Licht“ von Dy­lan Tho­mas, Ge­dich­te von T.S. Eli­ot und W. H. Au­den. Als Buch im Buch er­hält „Ge­heim­nis des Lich­tes“ von Wal­ter Rus­sell ei­ne be­son­de­re Rolle.

Das Lie­bes­spiel“, im Ori­gi­nal „Game of Se­crets“, des­sen Ti­tel mit „Scrabb­le“ doch viel tref­fen­der ge­wählt wä­re, weist ei­ne über­bor­den­de Fül­le von De­tails auf, die bis­wei­len ins Lee­re lau­fen. Trotz­dem ha­be ich die­sen span­nungs­rei­chen und gleich­zei­tig poe­tisch me­lan­cho­li­schen Ro­man sehr ger­ne gelesen.

Ein be­son­de­res Au­gen­merk sei auf sei­ne Kon­struk­ti­on ge­rich­tet. Die Au­torin kom­po­niert ihn aus meh­re­ren Stim­men. Wir ver­neh­men vor­wie­gend, in je­wei­li­gen Ka­pi­teln se­pa­riert, Ju­ne und Mar­ne, die im Jahr 2004 ih­re Sicht der Din­ge schil­dern. Ja­nes Ge­dan­ken ver­folgt der Le­ser stets beim Scrabb­le­spiel mit Ada. Mar­ne schil­dert ih­re An­nä­he­rung an Ray. Wei­te­re Ka­pi­tel spie­len 1962, dem Jahr in dem sich vie­les än­der­te. Die neue Stra­ße wird ge­baut, die sieb­zehn­jäh­ri­ge Ja­ne ver­liebt sich, und auch Huck, der vier­zehn­jäh­ri­ge Jun­ge Adas wird zum Ak­teur. Zwei Ka­pi­tel lässt Tripp im Jahr 1957 spie­len. Zu­dem ist der Ro­man in sie­ben ti­tel­tra­gen­de Tei­le ge­glie­dert. Die­sen Auf­bau er­wäh­ne ich hier so ex­pli­zit, weil auch die Au­torin Wert auf prä­zi­se An­ga­ben legt. Je­des Ka­pi­tel ver­zeich­net zu Be­ginn Prot­ago­nist und Zeit­raum, manch­mal so­gar die ge­naue Uhr­zeit. Dies mag zur Ori­en­tie­rung nütz­lich sein, wird al­ler­dings be­son­ders, wenn in die­sen Ka­pi­teln aber­mals Rück­bli­cke statt­fin­den, ob­so­let. Der Ro­man­auf­bau wirkt da­durch über­struk­tu­riert. Auch oh­ne die über­bor­den­de Zahl an Roman­tei­len, Ka­pi­tel­über­schrif­ten und Per­so­nen­an­ga­ben hät­te die Le­se­rin gut in die Ge­schich­te hin­ein­ge­fun­den, denn Dawn Tripp be­herrscht das span­nen­de Er­zäh­len. Sie lässt ih­re Prot­ago­nis­ten nicht nur beim Scrabb­le su­chen, son­dern sie wüh­len im Ge­strüpp der ver­gan­ge­nen Un­aus­sprech­lich­keit so­lan­ge bis al­le Wor­te auf dem Tisch sind.

 

Dawn Tripp, Das Lie­bes­spiel, übers. v. An­drea Fi­scher, Ar­che Li­te­ra­tur Ver­lag, 1. Aufl. 2012

Skandinavisches Schweigen

Über einen Sommer des Abschieds schreibt Per Petterson in „Pferde stehlen

Ein­sa­me Spa­zier­gän­ge in der Na­tur be­för­dern oft den Ge­dan­ken­fluss und die dar­in auf­tau­chen­den Er­in­ne­run­gen. So auch bei Trond, des­sen Ta­ge durch re­gel­mä­ßi­ge Run­den mit dem Hund Ly­ra struk­tu­riert sind. Trond leb­te schon an vie­len Or­ten, nun hat er sich mit 67 Jah­ren in ei­ne al­te Hüt­te am See zu­rück­ge­zo­gen. Ein klei­ner Fluss, der manch­mal Fo­rel­len führt, mün­det in die­sen. Dort liegt ge­ra­de noch in Blick­wei­te die nächs­te Hüt­te die­ser ein­sa­men Ge­gend. Die bei­den Nach­barn ha­ben ei­ni­ges ge­mein, Al­ter, Hun­de, Na­tur und Ein­sam­keit. Und noch mehr.

Im Lauf der Ge­schich­te stellt sich her­aus, daß sie sich in ih­rer Kind­heit kann­ten. Som­me­r­erin­ne­run­gen an ein klei­nes nor­we­gi­sches Dorf an der schwe­di­schen Gren­ze und ih­re Be­zie­hun­gen zu den we­ni­gen Be­woh­ner ver­bin­den sie. Doch wol­len sie sich dar­an er­in­nern? Bis auf ei­ne knap­pe Ver­stän­di­gung über das ge­gen­sei­ti­ge Wie­der­erken­nen und dem Er­stau­nen aus­ge­rech­net in die­ser Ein­öde nun zu Nach­barn ge­wor­den zu sein, fin­det zu­nächst kei­ne Kom­mu­ni­ka­ti­on über das Ver­gan­ge­ne statt.

Trond bleibt mit sei­nen un­ge­such­ten Er­in­ne­run­gen al­lei­ne. Durch die­se er­lebt er noch ein­mal den Som­mer von einst, in dem sich so viel ver­än­der­te. Trond war fünf­zehn und ver­brach­te wie schon oft die Som­mer­fe­ri­en mit sei­nem Va­ter. Er streun­te mit dem Nach­bars­jun­gen durch die Ge­gend, half bei der Land­ar­beit und beim Holz­ma­chen. Doch es gibt auch schmerz­haf­te Er­in­ne­run­gen, zu de­nen be­son­ders das En­de der un­be­schwer­ten Kind­heit zählt.

Ver­lust und Ab­schied präg­ten den Som­mer des Fünf­zehn­jäh­ri­gen. Als Er­wach­se­ner lebt er ein er­folg­rei­ches Le­bens, nicht nur in wirt­schaft­li­cher und so­zia­ler Hin­sicht, son­dern auch er­folg­reich im Ver­such zu Ver­ges­sen. Erst die Be­geg­nung mit Lars führt ihn wie­der zu den un­ge­klär­ten Fragen.

Dem nor­we­gi­schen Au­tor Per Pet­ter­son ge­lin­gen bild­haf­te, ru­hi­ge Na­tur­dar­stel­lun­gen, die den Le­ser so­fort in den Som­mer Nor­we­gens ver­set­zen. Das Auf­ge­hen und die Be­frie­di­gung in land­wirt­schaft­li­cher Ar­bei­ten er­in­nert an ei­nes der schöns­ten Flow­er­leb­nis­se der Welt­li­te­ra­tur in „An­na Ka­re­ni­na”. Als wei­te­re li­te­ra­ri­sche Vor­bil­der, ne­ben Tol­stoi, führt Pet­ter­son Di­ckens und Rim­baud an.

Durch die Er­in­ne­run­gen, die sich im Wech­sel zwi­schen Ver­gan­gen­heit und Ge­gen­wart ent­wi­ckeln, ent­steht ei­ne sich stän­dig stei­gern­de Span­nung. Aber ge­ra­de die­se Span­nung, die Pet­ter­son so sub­til auf­baut, löst der Au­tor nicht ein. So blei­ben vie­le Fra­gen of­fen. In­ne­re Vor­gän­ge wer­den kaum be­nannt, Mo­ti­ve und Ver­hält­nis­se blei­ben un­klar. Über al­lem liegt Schwei­gen, skan­di­na­vi­sches Schwei­gen. Stil­le, nach der Trond sich sein gan­zes Le­ben lang sehnte.

Per Pet­ter­son, Pfer­de steh­len,  über­setzt v. Ina Kro­nen­ber­ger, Fi­scher Ta­schen­buch Ver­lag, 6. Aufl. 2008

Vom Raum mit Riss zum Raum der Freundschaft

Ich nannte ihn Krawatte“ Milena Michiko Flasar erzählt von Formen der Ausgrenzung

Un­se­re Freund­schaft war der grö­ße­re Raum, in den ich ein­ge­tre­ten war. Sei­ne Wän­de hat­te ich mit den Bil­dern de­rer ta­pe­ziert, von de­nen wir ein­an­der er­zählt hatten.…“

Ei­gent­lich woll­te ich die­sen Band aus dem Wa­gen­bach-Ver­lag zu­nächst nicht le­sen. Die Ja­pan­be­geis­te­rung ist mei­ne Sa­che nicht und die Koi-Karp­fen auf dem Ti­tel schie­nen kli­schee­haf­te Vor­stel­lun­gen bes­tens zu be­die­nen. Doch die Be­geis­te­rung, die ich so­wohl in Buzz­al­drins Blog wie auch bei der Le­se­lust fand, mach­te mich neu­gie­rig. Vor al­lem dar­auf, in­wie­fern das ja­pa­ni­sche Phä­no­men der Hi­ki­ko­m­ori über­trag­bar auf eu­ro­päi­sche Ge­sell­schafts­er­schei­nun­gen sei. Die in Wien le­ben­de Au­torin, Toch­ter ei­ner Ja­pa­ne­rin und ei­nes Ös­ter­rei­chers, gibt in ih­rem Ro­man auf die­se Fra­ge ei­ne Antwort.

Sie er­zählt dar­in von Hi­ro, ei­nem jun­gen Mann, der seit zwei Jah­ren sein Zim­mer im Haus der El­tern nicht ver­las­sen hat. Aus Ekel vor der Welt, vor den An­de­ren und vor al­lem vor sich selbst ver­wei­gert er sich al­lem. Auch der Ab­len­kung. Er will für sich sein, nie­man­dem be­geg­nen, kei­nem Blick­kon­takt aus­ge­setzt sein. Sein ein­zi­ger ein­sa­mer Blick fällt auf ei­nen Riss in der Wand. „Hin­ter ge­schlos­se­nen Au­gen hat­te ich sei­ne ge­bro­che­ne Li­nie nach­ge­zeich­net. Sie war in mei­nem Kopf ge­we­sen, hat­te sich dar­in fort­ge­setzt, war mir ins Herz und die Adern eingegangen.“

Ei­nes Ta­ges wagt er sich den­noch hin­aus, druch­bricht den selbst­ge­schmie­de­ten Kä­fig und schafft es bis in den Park. Dort auf der Bank bei der Ze­der, wo er einst als klei­nes Kind ne­ben sei­ner Mut­ter saß, dort hält er sie aus, die Bli­cke und An­bli­cke der An­de­ren. Kaum er­träg­lich wird es ihm je­doch als die Bank ge­gen­über von ei­nem Ge­schäfts­mann, ei­nem die­ser Kra­wat­ten­trä­ger, be­setzt wird. Des­sen Seuf­zen ent­larvt ihn als Le­bens­mü­den, Hi­ro dul­det das Ge­gen­über ei­nes Gleich­ge­sinn­ten. Tag für Tag ver­brin­gen sie dort auf den Bän­ken. Vom scheu zu­ge­nick­ten Gruß bis zu ge­gen­sei­ti­gen Ge­ständ­nis­sen ent­steht schließ­lich Nä­he. Sie, die an der Er­war­tungs­hal­tung der An­de­ren und ih­rer ei­ge­nen fast zu Grun­de ge­gan­gen wä­ren, kom­men ins Ge­spräch und er­le­ben wie ih­re Be­geg­nung zu Ver­än­de­run­gen führt. Ih­re Er­fah­run­gen mit dem An­ders­sein, dem in­ne­ren, dem so­zia­len, dem phy­si­schen, be­din­gen das Ver­hal­ten. Sie sind al­le Hi­ki­ko­m­ori, denkt Hi­ro an ei­ner Stel­le. Zu vie­le wäh­len den Rück­zug, den ver­deck­ten, den zeit­wei­sen oder den finalen.

Trotz der The­ma­ti­sie­rung der Ver­ein­ze­lung in un­se­rer Ge­sell­schaft, die viel­leicht für die ja­pa­ni­sche noch stär­ker gel­ten mag, aber mir trotz­dem uni­ver­sal er­scheint, hat Fla­sar kein be­drü­cken­des Buch ge­schrie­ben. In ih­rer kla­ren Spra­che schil­dert sie un­pa­the­tisch und in prä­gnan­ten Sät­zen wie Freund­schaft ent­steht. In kur­zen Ka­pi­teln, die uns die Er­in­ne­rungs­mo­men­te der bei­den Prot­ago­nis­ten nä­her brin­gen, be­geg­nen wir die­ser An­nä­he­rung. Der schma­le aber schö­ne Ro­man en­det mit dem ANFANG, dort­hin kehrt man ger­ne noch ein­mal zu­rück um aber­mals die­ses Buch voll wah­rer Sät­ze zu lesen.

 

Mi­le­na Mi­chi­ko Fla­sar, Ich nann­te ihn Kra­wat­te, Ver­lag Klaus Wa­gen­bach, 1. Aufl. 2012

Le secret de maman

Hélène Grémillon enthüllt in „Das geheime Prinzip der Liebe” Müttergeheimnisse

Leih­mut­ter­schaft ist kein mo­der­nes Phä­no­men. Vor der Ent­wick­lung der In-Vi­tro-Tech­nik fand die Be­fruch­tung auf na­tür­li­chem We­ge statt. Die Leih­mut­ter war iden­tisch mit der leib­li­chen Mut­ter, le­dig­lich der Mann des Kin­der­wunsch­paa­res gab sei­ne Erb­an­la­gen wei­ter. Da der aus­tra­gen­den Frau ih­re Mü­hen gut be­zahlt wur­den, fan­den sich für der­ar­ti­ge Ab­kom­men vor al­lem An­ge­hö­ri­ge der un­te­ren Schich­ten bereit.

Fried­rich Heb­bel the­ma­ti­siert ei­nen sol­chen Vor­gang und des­sen Kon­flikt in sei­nem 1857 ent­stan­de­nen dra­ma­ti­schen Ge­dicht „Mut­ter und Kind“. Hé­lè­ne Gré­mil­lon, die Au­torin von „Das ge­hei­me Prin­zip der Lie­be“, ver­legt ihn ins Frank­reich des Jah­res 1939.

Wie der deut­sche Ti­tel des Ro­mans in größ­ter Klar­heit sagt, han­delt er vor al­lem von der Lie­be. Doch nicht nur von der manch­mal gro­ßen und oft nicht ein­zi­gen zwi­schen ei­nem Paar, son­dern „Le se­cret de ma­man“ weiterlesen

Über das Packen von Koffern, das Potential von Staubmäusen und das Sortieren von Büchern

Jens Sparschuh warnt „Im Kasten” vor den Gefahren der Ordnung

Die Welt des Han­nes Fe­lix, der für die op­ti­ma­le Ord­nung al­les Seins lebt, wird vom Cha­os be­droht. Sei­ne Frau Mo­ni­ka ist im Be­griff ihn zu ver­las­sen. Er steht vor ei­nem Scher­ben­hau­fen, doch fällt ihm nichts Bes­se­res ein als ih­re in Ra­ge in den Kof­fer ge­wor­fe­ne Klei­dung säu­ber­lich neu zu sor­tie­ren. Wäh­rend er ein Kof­fer­ver­zeich­nis plant, brät sich Mo­ni­ka noch ein Ei und ist weg. Wie war es nur so­weit ge­kom­men? Nicht nur pri­va­te Kon­flik­te löst Han­nes mit ei­nem Fens­ter­blick auf den ge­re­gel­ten Ver­kehr. Auch be­ruf­li­chen Be­dro­hun­gen schaut er lie­ber nicht ins Au­ge. Die­se er­war­ten ihn täg­lich in ei­ner Fir­ma, die sich um die Ein­la­ge­rung von vor­erst nicht Be­nö­tig­tem küm­mert. Schein­bar ein idea­les Ar­beits­mi­lieu für ei­nen pe­ni­blen Men­schen, doch Han­nes Fe­lix macht mit sei­nem Ord­nungs­wahn die an­de­ren und vor al­lem sich selbst verrückt.

Wenn von Ver­rückt­sein die Re­de ist hat man eher Cha­os als Ord­nung im Sinn. Jens Spar­schuh je­doch lässt sei­nen Han­nes Fe­lix an der Ord­nung zu Grun­de ge­hen. Für die­sen Hans im Glück „Über das Pa­cken von Kof­fern, das Po­ten­ti­al von Staub­mäu­sen und das Sor­tie­ren von Bü­chern“ weiterlesen

Von Affenliebe und Männerängsten

Thomas Lang erzählt in „Jim” von Männerleiden

Hal­ten Sie ei­nen Af­fen im Gar­ten? Wohl kaum. Wenn nicht die Grö­ße Ih­res Gar­ten da­ge­gen spricht, so doch ein­deu­tig je­de deut­sche Klein- und Großgartenverordnung.

Tho­mas Lang hin­ge­gen lässt ge­nau das ge­sche­hen in sei­ner Er­zäh­lung „Jim“. Jim ist ein Orang Utan, von Tier­schüt­zern aus un­wür­di­ger Kä­fig-exis­tenz be­freit darf er bis zum Rück­trans­port in sei­ne Hei­mat im Gar­ten von An­na Opitz verweilen.

De­ren Ehe­mann Frank trägt nicht nur den Na­men ei­nes be­rühm­ten Dich­ters, er möch­te auch selbst ei­ner sein. Wäh­rend sei­ne Frau dem Geld­erwerb nach­geht bleibt er zu Hau­se und war­tet auf die In­spi­ra­ti­on. Sei­ne Be­mü­hun­gen ei­nen Auf­trags­ar­ti­kel fer­tig­zu­stel­len schei­tern je­doch an sei­ner mo­men­ta­nen Le­bens­dis­po­si­ti­on, dem Leid. Bes­ser den Lei­den, denn Opitz lei­det an so vie­lem, an sei­ner nach­las­sen­den Kraft, Schaf­fens­kraft, Kör­per­kraft, An­zie­hungs­kraft, und ganz be­son­ders an dem Schwund sei­ner se­xu­el­len Kraft.

Der Aus­lö­ser die­ser Po­tenz­pro­ble­ma­tik ist ein Phan­tom­schmerz, der sei­ne „Von Af­fen­lie­be und Män­ner­ängs­ten“ weiterlesen

Damenroman

Was übrig bleibt” — Sigrid Combüchen erzählt von Frauen und Damen damals und heute

Was zum Teu­fel soll ein Da­men­ro­man sein und möch­te man et­was Der­ar­ti­ges über­haupt lesen?

Die in Schwe­den auf­ge­wach­se­ne deutsch­stäm­mi­ge Sig­rid Com­bü­chen lässt die­se Be­zeich­nung von ih­rer Er­zäh­le­rin fol­gen­der­ma­ßen erklären.

Ein Da­men­ro­man han­delt na­tür­lich von Klei­dern und Schmuck und Aus­se­hen und Il­lu­sio­nen über die Lie­be und „je­des Mäd­chen soll für ei­nen Tag im Le­ben ei­ne Prin­zes­sin sein dür­fen“.

Ei­ne Sei­te zu­vor wird der dä­ni­sche Li­te­rat Ge­org Bran­des (1842–1927) an­ge­führt, der mit die­sen Spott­be­griff ge­wis­se Frau­en­ro­ma­ne be­leg­te. Wir mö­gen an Ro­sa­mun­de Pilcher den­ken, Herr Bran­des dach­te an Vic­to­ria Be­ne­dicts­son (1850–1888). Doch zu die­sem kli­scheerei­chen tra­di­tio­nell­kon­ser­va­ti­ven Schick­sals­schil­de­run­gen zählt Com­bü­chens Ro­man keineswegs.

In „Was üb­rig bleibt“ schil­dert sie die Ent­wick­lung der jun­gen Hed­da, die für sich, im länd­lich-bür­ger­li­chen Mi­lieu der Drei­ßi­ger­jah­re schwie­rig ge­nug, ei­ne Aus­bil­dung in Stock­holm durch­setzt. Sie nimmt al­ler­dings kein Stu­di­um auf, was „Da­men­ro­man“ weiterlesen