Suche nach Frieden

Bernhard Schlinks Roman Die Frau auf der Treppe über Dinge, die nicht zu Ende gebracht wurden

Ich nei­de der Ju­gend nicht, dass sie das Le­ben noch vor sich hat; ich will es nicht noch mal vor mir ha­ben. Aber ich nei­de ihr, dass die Ver­gan­gen­heit, die hin­ter ihr liegt, kurz ist. Wenn wir jung sind, kön­nen wir un­se­re Ver­gan­gen­heit über­schau­en. Wir kön­nen ihr ei­nen Sinn ge­ben, auch wenn es im­mer wie­der ein an­de­rer ist. Wenn ich jetzt auf die Ver­gan­gen­heit zu­rück­schaue, weiß ich nicht, was Last ist und was Ge­schenk war, ob der Er­folg den Preis wert war und was sich in mei­nen Be­geg­nun­gen mit Frau­en er­füllt und was sich mir ver­sagt hat.“

Der Mo­tor die­ser Ge­schich­te ist ein Ge­mäl­de, der Akt ei­ner Frau, die „nackt, blass, blond vor grau­grü­nem Hin­ter­grund“ ei­ne Trep­pe her­ab schrei­tet. Ein mo­der­nes, En­de der Sech­zi­ger Jah­re ge­schaf­fe­nes Werk will ein Ge­gen­ent­wurf zu Mar­cel Duch­amps abs­trak­tem „Akt, ei­ne Trep­pe hin­ab­stei­gend“ sein. Ein Be­leg, daß auch in der mo­der­nen Kunst Ge­gen­ständ­lich­keit dar­stell­bar ist. Das Mo­tiv und die Ent­ste­hungs­zeit er­in­nern, wie Bern­hard Schlink in sei­nem Nach­wort zu­ge­steht, an Ger­hard Rich­ters „Ema. Akt auf ei­ner Trep­pe“. Die­ses Bild ha­be ihn in­spi­riert. Rich­ter sei je­doch nicht mit dem von ihm er­son­ne­nen Künst­ler Karl Schwind gleich­zu­set­zen. Die­ser be­sitzt nicht nur ei­nen bis auf zwei Buch­sta­ben de­ckungs­glei­chen Nach­na­men, son­dern auch wei­te­re Par­al­le­len mit sei­nem Au­tor. „Karl Schwind ist der­zeit nun ein­mal der be­rühm­tes­te und teu­ers­te Ma­ler welt­weit. Als sein sieb­zigs­ter Ge­burts­tag war, be­geg­ne­te er mir in al­len Blät­tern und auf al­len Ka­nä­len.“ Auch Bern­hard Schlink wur­de kürz­lich 70 Jah­re alt, was die Me­di­en mit ent­spre­chen­der Auf­merk­sam­keit wür­dig­ten. Schlink, von Be­ruf Ju­rist, ist durch sei­nen ver­film­ten, viel­fach über­setz­ten und zur Schul­lek­tü­re avan­cier­ten Welt­best­sel­ler „Der Vor­le­ser mitt­ler­wei­le je­den Kind be­kannt. We­nigs­tens in Ba­den-Würt­tem­berg, dort, ge­nau­er in Mann­heim, spie­len auch sei­ne ers­ten li­te­ra­ri­schen Ver­öf­fent­li­chun­gen, die Kri­mis um den Pri­vat­de­tek­tiv Selb.

Span­nung und ei­nen De­tek­tiv fin­den sich auch in Schlinks neu­es­tem Ro­man. Des­sen Haupt­fi­gur und Ich-Er­zäh­ler, auch er an die Sieb­zig, auch er Ju­rist, ent­deckt wäh­rend ei­nes Auf­ent­halts in Syd­ney be­sag­tes Ge­mäl­de in ei­ner Ga­le­rie und be­auf­tragt ei­ne De­tek­tei, um die an­ony­me Ei­gen­tü­me­rin zu er­mit­teln. Er ver­mu­tet, zu Recht wie sich schnell her­aus­stel­len wird, daß es sich um Ire­ne han­del­te, die gro­ße Lie­be sei­nes Lebens.

Der An­blick des Bil­des be­schwört ver­gan­ge­nes Ge­sche­hen und Ge­füh­le her­auf, an de­nen uns der Prot­ago­nist in der Rück­schau teil­ha­ben lässt. Pe­ter Gund­lach ließ 1968 sei­ne jun­ge, zwan­zig­jäh­ri­ge Frau Ire­ne von dem auf­stre­ben­den Ma­ler Karl Schwind por­trä­tie­ren. Sie wur­de die Ge­lieb­te des Künst­lers und ver­ließ ih­ren Mann, der sich auf sub­ti­le Wei­se an bei­den räch­te. Er ver­letz­te das Ge­mäl­de, so­mit in­di­rekt das Mo­dell und di­rekt die Ge­füh­le des Künst­lers für sein Werk. Als der Kon­flikt um das Bild stell­ver­tre­tend für den Streit um die Frau es­ka­lier­te, wur­de ein Rechts­an­walt ein­ge­schal­tet. Er soll­te ei­nen Ver­trag auf­setz­ten, der den Aus­tausch zwi­schen Bild und Frau ver­ein­bart. Das wie ei­ne Gei­sel ge­fol­ter­te Kunst­werk wür­de zu sei­nem Schöp­fer Schwind zu­rück­keh­ren, so­bald Gund­lach sei­ne Ehe­frau Ire­ne zurückerhalte.

Der jun­ge An­walt, dem die Kanz­lei die Ba­ga­tel­le über­ge­ben hat­te, hat sich zu die­sem Zeit­punkt schon längst in das le­ben­di­ge Ob­jekt der Be­gier­de ver­liebt. Viel­leicht so­gar in bei­de, in die Frau wie in das Bild. Es war die Kom­bi­na­ti­on, die ein von ihm als Lie­be be­zeich­ne­tes Ver­lan­gen entfachte.

Doch die drei Män­ner ha­ben ih­re Plä­ne oh­ne die Frau ge­macht, die sich nicht als Ob­jekt ge­bär­det, son­dern un­ter Nut­zung al­ler Vor­tei­le und der ein­ge­for­der­ten Kom­pli­zen­schaft des blind Ver­lieb­ten die Sa­che selbst in die Hand nimmt. Sie ent­führt das Bild und flieht mit ih­rer Beu­te auf Nimmerwiedersehen.

Dem An­walt in Aus­tra­li­en kommt sie durch die­se Er­in­ne­run­gen wie­der sehr na­he. Noch be­vor er er­fährt, daß es tat­säch­lich Ire­ne war, die das Bild der Ga­le­rie über­gab und die sich ganz in der Nä­he auf­hält, be­merkt er grund­le­gen­de Ver­än­de­run­gen an sich selbst. Er wird sich sei­ner noch im­mer be­stehen­den Ver­bin­dung zu Ire­ne be­wusst. Sei­ne Ver­pflich­tun­gen hin­ge­gen rü­cken in den Hin­ter­grund, sein Stre­ben nach Ma­kel­lo­sig­keit ver­liert an Be­deu­tung. Er be­zwei­felt das Bis­he­ri­ge und öff­net sich. Da­zu zählt auch die Fra­ge, ob für den Tod sei­ner Frau, die er ge­hei­ra­tet hat­te, „weil es kei­nen Grund gab, nicht zu hei­ra­ten“, nicht ge­nau dies und der des­we­gen von ihr über­mä­ßig ge­trun­ke­ne Al­ko­hol ver­ant­wort­lich sei.

In dem al­tern­den Mann wächst die Ein­sicht her­an. „Bei al­lem, was vor mir lag, war ich er­setz­bar. Nicht er­setz­bar war ich nur bei dem, was hin­ter mir lag.“ Er zö­gert zu­nächst sei­ner gro­ßen Lie­be zu be­geg­nen und sucht sie dann doch auf. Ire­ne lebt, so er­fährt er, seit zwan­zig Jah­ren il­le­gal in ei­ner schwer zu­gäng­li­chen Bucht. Als er die­se er­reicht, fin­det er zwei Häu­ser, ein Stein­haus am Strand und ei­ne ge­wagt fra­gi­le Holz­kon­struk­ti­on am Hang. In die­sem Am­bi­en­te des Ver­falls trifft er die ge­al­ter­te Ire­ne, die längst nicht mehr „gut in Form“ ist. Sei­ne Fra­ge, war­um sie da­mals oh­ne wei­te­re Nach­richt ver­schwun­den sei, be­ant­wor­tet sie mit dem Wunsch den ihr zu­ge­teil­ten Rol­len zu ent­kom­men. Sie woll­te we­der Weib­chen, Mu­se noch ei­ne Prin­zes­sin sein, die ge­ret­tet wer­den müs­se. Trotz­dem, so gibt die Tod­kran­ke zu, ha­be sie mit dem Bild die Män­ner noch ein­mal zu sich lo­cken wol­len. Sie, die den Na­men der grie­chi­schen Göt­tin des Frie­dens trägt, sucht ih­ren ei­ge­nen. Die­se Be­geg­nung schil­dert Schlink im zwei­ten Teil sei­nes Ro­mans. Im ab­schlie­ßen­den drit­ten Teil be­glei­tet der Ich-Er­zäh­ler die Ster­ben­de. Bei­de er­sin­nen in die­ser Zeit ih­re Ge­schich­te neu. Al­ler­dings voll­kom­men un­sen­ti­men­tal, da Ire­ne nie in ihn ver­liebt war. Wie es hät­te wer­den kön­nen mit Ih­nen als Paar, bleibt al­so rei­ne Fiktion.

Bern­hard Schlink be­ein­druckt auch in die­sem Ro­man durch sei­nen kla­ren, un­aus­schwei­fen­den Stil. Auf­fal­lend sind sei­ne Na­tur­me­ta­phern, Un­wet­ter, Wol­ken, so­gar ei­ne Feu­ers­brunst pro­phe­zei­en die in­ne­ren Stür­me der Figuren.

Der Ro­man weist ein viel­fäl­ti­ges The­men­spek­trum auf. Ne­ben mo­der­ner Kunst­theo­rie  dis­ku­tiert er die Fra­ge des Rechts an der Kunst. Die Selbst­be­stim­mung der Frau ent­ge­gen je­der Rol­len­zu­wei­sung und Re­duk­ti­on fin­den eben­so Raum wie die durch RAF und DDR an­ge­deu­te­ten zeit­ge­schicht­li­chen Tur­bu­len­zen. Ver­wun­dert nahm ich al­ler­dings zur Kennt­nis, daß auch in die­sem Ro­man Pro­so­pa­gno­sie ein wenn auch sehr mar­gi­na­les The­ma ist. Oh­ne Ge­sichts­blind­keit scheint der ak­tu­el­le Ge­gen­warts­ro­man nicht aus zu kommen.

Das Haupt­an­lie­gen ist je­doch das Al­ter in all’ sei­nen Fa­cet­ten. Von der Er­kennt­nis der Un­ab­än­der­bar­keit des Ge­sche­he­nen füh­ren die Fra­gen nach Schuld und Ver­ant­wor­tung zu ei­ner Al­ters­weis­heit, die in vie­len Ge­dan­ken des Ro­mans aufleuchtet.

Zum Jung­sein ge­hört das Ge­fühl, al­les kön­ne wie­der gut wer­den, al­les, was schief­ge­lau­fen ist, was wir ver­säumt, was wir ver­bro­chen ha­ben. Wenn wir das Ge­fühl nicht mehr ha­ben, wenn Er­eig­nis­se und Er­fah­run­gen un­wie­der­bring­lich wer­den, sind wir alt.“

Bern­hard Schlink, Die Frau auf der Trep­pe, Dio­ge­nes Ver­lag, 1. Aufl. 2014

2 Gedanken zu „Suche nach Frieden“

  1. Hal­lo,

    die Be­spre­chung ist hier un­ge­wöhn­lich um­fang­reich, wird doch schon fast die gan­ze Hand­lung in all ih­ren drei Tei­len wie­der­ge­ge­ben. Aber trotz­dem gibt es aus mei­ner Sicht noch ge­nug zu entdecken.

    (M)Eine ei­ge­ne Kri­tik da­zu gibt es hier.

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