Reisehandbuch für Nichtreisende

Pierre Bayard verteidigt den fernen Blick

Bayard, OrteWie man über Bü­cher spricht, die man nicht ge­le­sen hat“, die­ses Es­say des Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­lers und Psy­cho­ana­ly­ti­kers Pierre Ba­yard hat mich vor kur­zem sehr be­ein­druckt. Be­geis­tert von sei­nen Theo­rien zum Le­sen er­war­te­te ich neue geist­rei­che Aus­füh­run­gen zum The­ma „Wie man über Or­te spricht, an de­nen man nicht ge­we­sen ist“.

Nicht nur äu­ßer­lich gleicht das im Kunst­mann-Ver­lag er­schie­ne­ne neue Buch sei­nem Vor­gän­ger. Das schlich­te beige Co­ver ziert ein gal­li­scher Hahn, der dies­mal nicht auf ei­nem Sta­pel Bü­cher son­dern auf ei­nem Glo­bus Po­si­ti­on be­zo­gen hat. Auch der Auf­bau des Es­says wur­de über­nom­men. Von Ar­ten des Nicht­le­sen über Ge­sprächs­si­tua­tio­nen bis zu Emp­foh­le­nen Hal­tun­gen äu­ßert sich Ba­yard zu Or­ten, die man nicht kennt (UB), die man über­flo­gen hat (ÜO), die man vom Hö­ren­sa­gen kennt (EO) und die man ver­ges­sen hat (VO). Dar­aus er­ge­ben sich ent­spre­chen­de Ka­te­go­rien, die man ähn­lich aus dem Vor­gän­ger­buch kennt. Die Fol­ge­ka­pi­tel tra­gen den glei­chen Ti­tel wie im ers­ten Es­say, tei­len sich aber dem Su­jet ent­spre­chend in ver­schie­de­ne Un­ter­punk­te. Die Wahl der Ge­sprächs­si­tua­tio­nen un­ter­schei­det sich al­ler­dings, der Au­tor wählt zum The­ma Rei­sen Sze­na­ri­en aus der An­thro­po­lo­gie, dem Jour­na­lis­mus, Sport und Fa­mi­lie. Dem Nicht­rei­sen­den emp­fiehlt er im letz­ten Ka­pi­tel fol­gen­de Hal­tun­gen, Gren­zen öff­nen, in der Zeit zir­ku­lie­ren, durch den Spie­gel ge­hen und sich lie­ben.

Ba­yard be­tont im Vor­wort, daß die Par­al­le­li­tät zwi­schen sei­nen bei­den Es­says be­ab­sich­tigt sei. Er möch­te zei­gen, daß „un­se­re par­ti­el­le oder auch voll­stän­di­ge Un­wis­sen­heit über ei­nen Ge­gen­stand nicht un­be­dingt ein Han­di­cap sein muss, um sach­kun­dig über ihn zu re­den, (…).“ (S. 16) Ge­spannt be­gann ich die Lek­tü­re. Auch wenn ich viel Wohl­be­kann­tem be­geg­ne­te, über­rasch­te mich die Richtung.

Mar­co Po­los Rei­se­be­richt aus Chi­na bil­det den Ein­stieg in die­ses Rei­se­hand­buch für Nicht­rei­sen­de. Ob der Ve­ne­zia­ner tat­säch­lich das fer­ne Land durch­quer­te, wird in der his­to­ri­schen For­schung kon­tro­vers dis­ku­tiert. Ba­yard ver­mu­tet, daß Mar­co Po­lo sei­ne Chi­na­phan­ta­sien ei­ner Schö­nen ins Ohr flüs­ter­te oh­ne sich je­mals von sei­ner Hei­mat­stadt weg be­wegt zu haben.

Die an­schlie­ßen­de Be­trach­tung ana­ly­siert die Rei­se­ge­wohn­hei­ten des Phi­leas Fogg. Es er­staunt kaum, daß die­se Fi­gur Ju­les Ver­nes als Ex­em­pel des Rei­sen­den dient, der Or­te le­dig­lich über­fliegt. Fogg, des­sen Ziel ei­ne Welt­um­run­dung mit fes­tem Zeit­li­mit ist, sei nicht auf Orts­be­ge­hun­gen aus. Die­ser Rei­sen­de „dreht sich viel­mehr wie ein see­len­lo­ser Ge­gen­stand um die Er­de.“ (S. 39) Der Au­tor zieht hier die Par­al­le­le zum Quer­le­sen von Bü­chern. Doch ist die­ser Ver­gleich an­ge­mes­sen? Wä­re Foggs Wet­te nicht eher mit ei­ner An­kün­di­gung ver­gleich­bar, ein Buch in ei­ner vor­her fest­ge­leg­ten Zeit zu durch­blät­tern? Beim Quer­le­sen wird noch ge­le­sen aber lässt sich ein Schnell­trans­port um die Er­de noch als Rei­se bezeichnen?

Was macht ei­ne Rei­se aus? Der Au­tor de­fi­niert sei­nen Un­ter­su­chungs­ge­gen­stand nicht. Dar­in liegt mei­nes Er­ach­tens das Grund­pro­blem des Es­says. Ba­yard ent­wi­ckelt viel­mehr an­hand fast aus­schließ­lich li­te­ra­ri­scher Bei­spie­le ei­ne dif­fu­se Theo­rie des Über­blicks. So ge­lin­ge ein Über­blick über ei­nen Ort nur oh­ne sich „auf ir­gend­ein zweit­ran­gi­ges De­tail zu fo­kus­sie­ren“ (S. 47), dies sei bei ho­her Rei­se­ge­schwin­dig­keit ge­ge­ben und schüt­ze vor Ste­reo­ty­pen und Ver­all­ge­mei­ne­run­gen. Wirklich?

Wer hat nicht schon von den be­rühm­ten Lehn­stuhl­rei­sen­den der Ver­gan­gen­heit ge­hört? Ba­yard führt ei­nen mo­der­nen Ver­tre­ter an, Édouard Glis­sant, dem Al­ter und Krank­heit ver­wehr­ten sein Traum­ziel zu be­rei­sen und der dar­um sei­ne jün­ge­re Frau zu den Os­ter­in­seln schick­te. Sie re­cher­chier­te vor Ort, Glis­sart schrieb zu Hau­se das Rei­se­buch. Die­se merk­wür­di­ge Auf­ga­ben­tei­lung, sie Kör­per, er Kopf, be­sitzt, so Ba­yard „zahl­rei­che Vor­tei­le, dar­un­ter je­nen, dass sämt­li­che kör­per­li­chen Ge­fah­ren auf ei­ne Per­son ver­sam­melt wer­den, wäh­rend sich die zwei­te Hälf­te des Paa­res auf das We­sent­li­che kon­zen­trie­ren kann: ei­ne ge­naue Er­fas­sung des Or­tes und sei­ne Re­kon­struk­ti­on durch das Schrei­ben.“ (S. 55)

Die viel­fäl­ti­gen Um­for­mun­gen, wel­che das Er­le­ben ei­ner Per­son durch Er­in­ne­rungs­vor­gän­ge und Er­zäh­len per­ma­nent ver­än­dert, schei­nen dem Au­tor und Psy­cho­lo­gen fern. Oder doch nicht? Denn im nächs­ten Ka­pi­tel be­rück­sich­tigt er, daß Or­te ver­wech­selt und ver­ges­sen wer­den. Sein un­zu­ver­läs­si­ger Zeu­ge ist Cha­teau­bri­and, der vie­le der ver­ges­se­nen Or­te nur durch Rei­se­be­rich­te und li­te­ra­ri­schen Tex­ten kennt, die er in sei­ne Be­trach­tun­gen der un­be­such­ten Or­te verwebt.

Nach die­sem ers­ten Ka­pi­tel ist klar, daß Ba­yard vor­wie­gend das li­te­ra­ri­sche Rei­sen be­trach­tet, er geht nicht von der prak­ti­schen Si­tua­ti­on aus, ver­sucht aber für die­se Rat­schlä­ge von den bis­her vor­ge­stell­ten Nicht­rei­sen­den abzuleiten.

Im Ka­pi­tel Ge­sprächs­si­tua­tio­nen setzt er die­ses Vor­ha­ben al­ler­dings nicht um, wie im Bü­cher­es­say, son­dern führt die Rei­he sei­ner Rei­se­ent­sa­ger fort. Auch hier hört der er­fah­re­ne Le­ser be­kann­te Ge­schich­ten, wie die von Mar­ga­ret Meads Sa­moa-Stu­die. Ob­wohl ge­ra­de die­se ein gu­tes Bei­spiel da­für ist, wes­halb Eth­no­lo­gen ei­ne sen­si­ble teil­neh­men­de Be­ob­ach­tung als Grund­la­ge ih­rer Be­schrei­bun­gen durch­füh­ren soll­ten, ar­gu­men­tiert Ba­yard ve­he­ment ge­gen die­se Me­tho­de der Feld­for­schung. Sie mag bis­wei­len zu Ein­flüs­sen oder gar Pan­nen füh­ren, die das Er­geb­nis ver­fäl­schen, aber ihr die Ima­gi­na­tio­nen und Phan­ta­sien ei­nes Ab­we­sen­den vor­zu­zie­hen ist absurd.

Mit Au­gen­zwin­kern phi­lo­so­phiert Ba­yard über das Phä­no­men des Nicht­rei­sens, sein Buch „ver­steht sich als ei­ne Ver­tei­di­gung der (…) di­stan­zier­ten Be­ob­ach­tung“. (S. 100) Wis­sen­schaft­lich ist dies nicht, aber es amü­siert, wenn er von dem ame­ri­ka­ni­schen Jour­na­lis­ten Ja­son Blair be­rich­tet, der ei­nes Ta­ges voll­kom­men dar­auf ver­zich­tet sei­ne Woh­nung zu ver­las­sen und sei­ne Ar­ti­kel aus frem­den Quel­len speist. Eben­so wie Ro­sie Riuz, die 1980 den Bos­ton Ma­ra­thon mit ei­ner pfif­fi­gen Eu­len­spie­ge­lei ge­wann. Die an­schlie­ßen­de Über­le­gung, daß auch Phil­ip­pi­des, der ers­te Ma­ra­thon-Läu­fer, ger­ne die Be­quem­lich­keit ei­nes öf­fent­li­chen Ver­kehrs­mit­tels der elen­den Ren­ne­rei vor­ge­zo­gen hät­te, kommt gleich­falls aus der Ar­gu­men­ta­ti­ons­kis­te ei­nes Eulenspiegels.

Ei­nem Ba­ron von Münch­hau­sen hin­ge­gen gleicht der Zeu­ge, mit dem Ba­yard uns die ers­te sei­ner emp­foh­le­nen Hal­tun­gen na­he­brin­gen will. Ge­org Psal­ma­na­zar er­freu­te zu Be­ginn des 18. Jahr­hun­derts ganz Lon­don mit den Be­rich­ten über sei­ne Hei­mat For­mo­sa. Ob man in die­sen Zu­sam­men­hän­gen den Be­griff des von Freud ge­präg­ten in­ne­ren Rau­mes an­füh­ren muss oder den ato­pi­schen Raum als Lo­cus si­ne qua non idea­li­sie­ren soll­te, sei bezweifelt.

Auch Karl May hal­te ich nicht für ein gut ge­wähl­tes Bei­spiel ei­nes er­folg­rei­chen Nicht­rei­sen­den. Die von Ba­yard an­ge­führ­te fort­schritt­li­che Kri­tik am Um­gang mit der in­di­ge­nen Be­völ­ke­rung hat May eben nicht in­tui­tiv aus der Di­stanz er­spürt, son­dern wie sei­ne prä­zi­sen Land­schafts­bil­der schlicht und ein­fach ab­ge­schrie­ben. Die Le­se­rin be­geg­net mit Blai­se Cen­dar und Ni­na Ber­be­ro­va wei­te­ren Ima­gi­na­ti­ons­rei­sen­den und ver­zwei­felt an Sät­zen wie: „Der Geist des Or­tes, der in der Spra­che an­ge­sie­delt ist, ist un­trenn­bar von der Kom­mu­ni­ka­ti­on mit dem an­de­ren und hängt nicht ein­zig vom ima­gi­nä­ren Land des Au­tors ab.“ (S. 185)

Das Es­say schließt mit ei­nem Glos­sar, des­sen Stich­wor­te fol­gen­des Re­sü­mee ergeben:

Ba­yards ato­pi­sche Kri­tik zum ato­pi­schen Raum setzt auf die di­stan­zier­te Be­ob­ach­tung um den Geist des Or­tes zu er­fas­sen. Ein ima­gi­nä­res Land er­mög­licht uns durch In­for­man­ten un­ser in­ne­res Land und des­sen li­te­ra­ri­sche Wahr­heit auf­zu­spü­ren oh­ne je­de phy­si­sche Prä­senz. Der plu­ra­le Sin­gu­lar der psy­chi­schen Prä­senz er­mög­licht dem sess­haf­ten Rei­sen­den oh­ne Rei­se in ein rea­les Land und oh­ne teil­neh­men­de Be­ob­ach­tung ei­nen Über­blick so­wie uni­ver­sel­le Er­fah­rung. Nur die Un­rei­se ga­ran­tiert die Rück­kehr in das ur­sprüng­li­che Land der ers­ten Kindheitsträume.

Ein an­re­gen­des Ge­dan­ken­spiel bie­ten Ba­yards Aus­füh­run­gen trotz al­lem. Lei­der fehlt im Buch die Li­te­ra­tur­lis­te. Wer sich mit sei­nen Quel­len aus­ein­an­der setz­ten möch­te, fin­det sie im fol­gen­den er­gänzt mit wei­te­ren Angaben.

Ni­na Ber­be­ro­va, Das schwar­ze Übel. Ber­lin 2003.

Ja­son Blair, Bur­ning down my Master’S House. Be­ver­ly Hills 2004.

Em­ma­nu­el Car­rèr­re, Amok. Frank­furt 2003.

Fran­çois Re­né de Cha­teau­bri­and, Itin­é­rai­re de Pa­ris à Je­ru­sa­lem, Pa­ris 2005.
                                                     id., Mé­moi­res d’outre-tombe I. Pa­ris 2009.
                                                     id., Ètu­des his­to­ri­que et Voya­ge en Ame­ri­que, Pa­ris 1860.

zu Cha­teau­bri­and: Mi­chel de Jaeg­her, Le Men­teur ma­gni­fi­que. Pa­ris 2006.

Blai­se Cen­drars, Auf al­len Mee­ren.. Ba­sel 2008

zu Cen­drars: Mi­ri­am Cen­drars, Blai­se Cen­drars: Ei­ne Bio­gra­phie. Ba­sel 1986.

Édouard Glis­sant, Das ma­gne­ti­sche Land: Die Irr­fahrt der Os­ter­in­sel Ra­pa Nui. In Zu­sam­men­ar­beit mit Syl­vie Sé­ma. Hei­del­berg 2010.

Karl May, Win­ne­tou 1. Rei­se­er­zäh­lung. Bam­berg 1951.

zu May: Karl Mar­kus Kreis, Rot­häu­te, Schwarz­rö­cke und Hei­li­ge Frau­en. Deut­sche be­rich­ten aus der In­dia­ner Mis­si­on in South Da­ko­ta. Bo­chum 2000.

Mar­ga­ret Mead, Ju­gend und Se­xua­li­tät in pri­mi­ti­ven Ge­sell­schaf­ten, I. Kind­heit und Ju­gend in Sa­moa.. Mün­chen 1970.

zu Mead: De­rek Free­man, Lie­be oh­ne Ag­gres­si­on. Mar­ga­ret Meads Le­gen­de von der Fried­fer­tig­keit der Na­tur­völ­ker.  Mün­chen 1983.

Ge­or­ge Psal­ma­na­zar, Me­moi­res of ****. Com­mon­ly ko­nown by the na­me of Ge­ro­ge Psal­ma­na­zar; a re­pu­ted na­ti­ve of For­mo­sa. Writ­ten by hims­elf in or­der tob e pu­blished af­ter his de­ath, Lon­don 2011.

zu Psal­ma­na­zar: Ri­chard M. Swi­der­ski, The Fal­se For­mo­san: Ge­org Psal­ma­na­zar and the Eigh­te­enth-Cen­tu­ry Ex­pe­ri­ment of Iden­ti­ty. San Fran­cis­co 1991.

Mar­co Po­lo, Die Wun­der der Welt: Il Mi­li­o­ne: Die Rei­se nach Chi­na an den Hof des Ku­b­lai Khan. Frank­furt 2003

zu Po­lo: Fran­ces Wood, Mar­co Po­lo kam nicht bis Chi­na. Mün­chen 1996.

Ju­les Ver­ne, In 80 Ta­gen um die Welt. Mün­chen 2011.

Pierre Ba­yard, Wie man über Or­te spricht, an de­nen man nicht ge­we­sen ist, übers. v. Lis Künz­li. Kunst­mann Ver­lag, 1. Aufl. 2013.

3 Gedanken zu „Reisehandbuch für Nichtreisende“

  1. Auf die­se Be­spre­chung bin ich ganz be­son­ders neu­gie­rig ge­we­sen — und nun ein we­nig ent­täuscht (nicht von der Be­spre­chung, son­dern vom Ob­jekt des Be­spre­chens). Ich hat­te er­war­tet, dass Ba­yard, ähn­lich wie beim Le­sen auch, über das wirk­li­che Rei­sen schreibt, wo­bei die li­te­ra­ri­sche Rei­se ja durch­aus EINE Art des Rei­sens hät­te sein kön­nen, aber eben nur ei­ne. Wenn ich den Ba­yard nun doch le­se, ha­be ich aber auf je­den Fall schon ein­mal kei­ne fal­schen Vor­stel­lun­gen da­von, son­dern weiß, wor­auf ich mich einlasse.
    Vie­le Grü­ße, Claudia

    1. Ei­ne schö­ne Lek­tü­re sind die Rei­se­be­trach­tun­gen auf je­den Fall. Wem das The­ma der Lehn­stuhl­rei­sen­den nicht so be­kannt ist und wer nicht so pin­ge­lig ist, wird gut unterhalten.

  2. Ich hab es in­zwi­schen auch ge­le­sen und ha­be dem im Grun­de nichts hin­zu­zu­fü­gen. Das Ka­pi­tel über Karl May hat mir gut ge­fal­len, von Ge­org Psal­ma­na­zar hat­te ich noch nie gehört.

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