Wenn Philosophieprofessoren nach Portugal pilgern

Stephan Thome erzählt in Fliehkräfte von einer verspäteten Midlife Crisis

Als ich zum ers­ten Mal von Ste­phan Tho­mes neu­em Ro­man Flieh­kräf­te hör­te, dach­te ich un­wei­ger­lich an den äl­te­ren Ro­man des un­ter Pseud­onym schrei­ben­den Phi­lo­so­phie­pro­fes­sors Pe­ter Bie­ri. Bei­de schi­cken ih­re Prot­ago­nis­ten in der Kri­se der spä­ten Le­bens­mit­te nach Por­tu­gal. Ih­re Fi­gu­ren sind der Phi­lo­so­phie na­he, der ei­ne als Phi­lo­so­phie-Pro­fes­sor der Uni Bonn, der an­de­re als Phi­lo­so­phie le­sen­der La­tein­leh­rer in Ba­sel. Sie ver­su­chen bei­de aus ih­rem All­tag zu flie­hen. Ei­ner mit dem Nacht­zug, un­ter­bro­chen von Ver­satz­stü­cken ei­ner Pes­soa-Ad­ap­ti­on, der an­de­re im Au­to mit viel Zeit für Er­in­ne­run­gen und für Besuche.

Wäh­rend Nacht­zug nach Lis­sa­bon ei­ne in man­cher Hin­sicht an­stren­gen­de Lek­tü­re dar­stellt, schil­dert Ste­phan Thome die Le­bens­sinn­kri­se an­schau­lich und an­ge­nehm les­bar. Sei­ne Fi­gur, Hart­mut Hain­bach, hat es trotz klei­ner Ver­hält­nis­se in der hes­si­schen Pro­vinz zum Pro­fes­sor für Phi­lo­so­phie ge­bracht. Jetzt zwei­felt er an die­ser Kar­rie­re und an sei­nem bis­he­ri­gen Le­ben. War al­les nur „ei­ne Par­odie sei­ner Träu­me“?

Sei­ne Toch­ter stu­diert in Spa­ni­en und mel­det sich nur sel­ten, sei­ne Frau ar­bei­tet in Ber­lin und ruft manch­mal an. Bei­de ha­ben sich von ih­rem Ver­sor­ger eman­zi­piert, sie sind aus dem Haus, in dem die­ser noch lebt noch da zu im pro­vin­zi­el­len Bonn. Das ent­behrt nicht ge­wis­ser Iro­nie, die Thome auch in der Fi­gur Hain­bachs auf­schei­nen lässt.

Da macht ei­ne ver­meint­lich zwei­te Chan­ce Hain­bach sei­ne Un­zu­frie­den­heit be­wusst. Vor der Ent­schei­dung sei­ne Pro­fes­sur zu­guns­ten ei­ner neu­en Stel­le im un­si­che­ren Ver­lags­we­sen auf­zu­ge­ben flieht Hain­bach auf ei­ne Rei­se. Sie führt ihn zu­nächst nach Pa­ris, wo er Sand­ri­ne trifft, sei­ne gro­ße Lie­be wäh­rend der Se­mes­ter in Ame­ri­ka. Spä­ter er­reicht er ei­nen Ort an der süd­fran­zö­si­schen At­lan­tik-Küs­te, wo ein ehe­ma­li­ger Kol­le­ge und Freund, sei­ne Pro­fes­sur ge­gen ei­ne Strand­bar ein­ge­tauscht hat.

Hain­bach wägt die neu­en Le­bens­mo­del­le der al­ten Freun­de ge­gen sein ei­ge­nes ab, im Ver­lauf sei­ner ihn aus­ge­rech­net nach Sant­ia­go de Com­pos­te­la füh­ren­den Sinn­su­che be­geg­nen ihm noch wei­te­re. Auch sei­ne Rück­bli­cke er­zäh­len von Per­so­nen, die völ­lig an­ders le­ben als er. Hain­bach denkt an die „klei­ne, dum­me Ruth“, sei­ne jün­ge­re Schwes­ter, der in der hes­si­schen Hei­mat mit Mann, Haus und Zwil­lin­gen ein für ihn kaum nach voll­zieh­ba­res klein­bür­ger­li­ches Le­ben glückt. Ei­ner die­ser Nef­fen wählt spä­ter den ge­ra­den Weg mit aka­de­mi­scher Kar­rie­re, Ehe und Kind, wäh­rend der an­de­re das Aben­teu­er der wech­seln­den Chan­ce sucht.

Wie Hain­bach im Spie­gel all die­ser zu­rück­lie­gen­den und ak­tu­el­len Er­fah­run­gen sei­ne bis­he­ri­ge Le­bens­wei­se be­wer­tet und ob es für ihn, für sein Glück ei­ne zwei­te Chan­ce gibt, da­von han­delt die­ser Ro­man. Man kann ihn auch als Ab­bild der mo­men­ta­nen ge­sell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se le­sen. Über die Kri­se der mies ge­lun­ge­nen Uni­ver­si­täts­re­form, der des Ver­lags- und Kul­tur­we­sens ins­ge­samt, über die schwie­ri­ge Stel­lung der Geis­tes­wis­sen­schaf­ten im Ge­gen­satz zu neu­en Pra­xis na­hen Stu­di­en­fä­chern, greift Thome auch das The­ma trans­na­tio­na­ler Fa­mi­li­en und of­fen ge­leb­ter gleich­ge­schlecht­li­cher Lie­be auf. Wie be­reits in sei­nem ers­ten Ro­man Grenz­gang spie­len Hei­mat und Frem­de ei­ne Rol­le. Auch der Rück­blick auf die Deut­sche Ver­gan­gen­heit fehlt nicht. Viel­leicht ein biss­chen viel für ei­nen knapp fünf­hun­dert Sei­ten lan­gen Ro­man, der mich zwar wäh­rend der Lek­tü­re kei­ne Län­gen ver­spü­ren, aber den­noch in­dif­fe­rent ließ.

Viel­leicht lag es dar­an, wie die Fi­gur Hain­bach die Frau­en sei­nes Le­bens be­ur­teilt. So­fern es sich um Haus­frau­en han­delt, wer­den sie als treu­sor­gend, lieb aber dumm dar­ge­stellt, so schätzt er sei­ne Mut­ter und Schwes­ter, aber auch die por­tu­gie­si­sche Schwie­ger­mut­ter ein. Auch der ge­lieb­ten Toch­ter droht, kaum der vä­ter­li­chen in­tel­lek­tu­el­len Sphä­re ent­ron­nen, sei­ner An­sicht nach, die Do­mi­nanz der les­bi­schen Le­bens­ge­fähr­tin und geis­ti­ge Ver­fla­chung. Die­se er­litt einst auch sei­ne Frau, die als de­spe­ra­te House­wi­fe hos­pi­ta­li­siert ih­rem Hirn nur noch die Schick­sa­le ih­rer Se­ri­en­schwes­tern zu­mu­ten konn­te. Die Ver­blüf­fung des Phi­lo­so­phie­pro­fes­sors über die Ent­de­ckung des Vi­deo­ver­stecks sei­ner Gat­tin mag noch ver­ständ­lich sein, es aber auf den letz­ten Sei­ten der Selbst­su­che zum scho­ckie­ren­den Er­leb­nis ei­ner lang­jäh­ri­gen Ehe zu sti­li­sie­ren, wirkt un­frei­wil­lig komisch.

Das En­de bleibt of­fen und so be­steht für Hain­bach die Chan­ce sich trotz Pro­fes­so­ren­bür­de ein­mal lo­cker zu ma­chen, not­falls mit ei­nem zwei­ten Joint, und für Ma­ria trotz Er­werbs­lo­sig­keit mal ein gu­tes Buch zu le­sen, not­falls ein we­ni­ger gutes.

Ste­phan Thome be­fin­det sich mit Flieh­kräf­te auf der Short­list zum Deut­schen Buch­preis 2012, es be­steht Aus­sicht auf den Gewinn.

Ste­phan Thome, Flieh­kräf­te, Suhr­kamp Ver­lag, 1. Aufl. 2012

12 Gedanken zu „Wenn Philosophieprofessoren nach Portugal pilgern“

  1. Ich ha­be den Ro­man über­aus gern ge­le­sen, bin mir aber nicht ganz si­cher, wel­chen ich lie­ber moch­te, Grenz­gang oder Flieh­kräf­te. Wohl doch eher den ers­ten. Den­noch: Was sich auch in dem vor­lie­gen­den zeigt, ist Tho­mes er­staun­li­che Fä­hig­keit, in sei­ne Fi­gu­ren hin­ein­zu­bli­cken, Nu­an­cen zwi­schen­mensch­li­cher Be­zie­hun­gen zu fest­zu­hal­ten und Dia­lo­ge zu ent­wi­ckeln. Das fühlt sich al­les un­glaub­lich nah an der Wirk­lich­keit an — au­then­tisch, echt. Dass Hain­bach mit­un­ter denk­wür­di­ge Vor­stel­lun­gen von den Frau­en, die ihn um­ge­ben, hat, macht ihn zwar nicht ge­ra­de zur sym­pa­thischs­ten Ro­man­fi­gur, doch es passt mei­ner Mei­nung nach gut zu die­ser Fi­gur, es zeich­net das glaub­wür­di­ge Bild ei­nes voll­kom­men auf sich be­zo­ge­nen Man­nes, der nicht (oder nur ganz sel­ten, wie in der Park­platz­sze­ne) aus sei­ner Haut kann.
    Ich hof­fe, ich schaf­fe es, in den nächs­ten Ta­gen mei­ne Ge­dan­ken zu die­sem gu­ten Ro­man zu ord­nen, und dan­ke dir für dei­ne ge­lun­ge­ne Besprechung.

  2. Dan­ke für Dei­ne An­mer­kun­gen, Caterina.
    „Grenz­gang” hat mir eben­falls bes­ser ge­fal­len, was an den Frau­en­fi­gu­ren die­ses Ro­mans ge­le­gen ha­ben mag. Das wer­de ich dem­nächst noch ein­mal ge­nau nach­le­sen, denn „Grenz­gang” steht auf dem Pro­gramm un­se­res Li­te­ra­tur­krei­ses. In „Flieh­kräf­te” hat mich die Fi­gur der Sand­ri­ne am meis­ten be­ein­druckt, ih­re Per­sön­lich­keit ist frei von je­dem Klischee.
    Mal se­hen, wie Du die­ses Fi­gu­ren be­ur­teilst, ich wer­de vor­bei schauen.

    Flieh­kräf­te” steht jetzt auf Platz 2 der SWR-Bestenliste.

  3. Ja, da stim­me ich dir zu, Sand­ri­ne ist wirk­lich ei­ne fas­zi­nie­ren­de Fi­gur, so­wohl auf der Ge­gen­warts- als auch auf der Ver­gan­gen­heits­ebe­ne. Aber auch die Hol­län­de­rin ge­fiel mir zum Bei­spiel. Schwer greif­bar fand ich hin­ge­gen Ma­ria, aber wie ge­sagt scheint mir die Fi­gu­ren­dar­stel­lung den­noch schlüs­sig, wenn man be­ach­tet, dass es sich um Hain­bachs — bis­wei­len eng­stir­ni­ge — Per­spek­ti­ve han­delt. Die Frau­en­fi­gu­ren wur­den üb­ri­gens schon in meh­re­ren Be­spre­chun­gen kri­ti­siert, just heu­te schreibt et­wa der Ta­ges­spie­gel, sie „hän­gen an lau­war­men Lust- oder Angstfantasien”.

    Dan­ke für den Hin­weis auf die SWR-Bes­ten­lis­te und lie­be Grüße.

    1. Lust- und Angst­fan­ta­sien” hal­te ich für übertrieben.
      Man könn­te al­ler­dings den­ken, daß ge­wis­se na­tio­na­le Ste­reo­ty­pen und Rol­len­kli­schees an den Fi­gu­ren vor­ge­führt wer­den sol­len. Ma­ria, die klei­ne, dunk­le, mol­li­ge Por­tu­gie­sin mit der se­xy Stim­me fällt in der Hei­mat in die tra­di­tio­nel­le Rol­le der Hel­fe­rin und Kö­chin zu­rück. Die Hol­län­de­rin lebt un­kon­ven­tio­nell. Die deut­schen Frau­en sind pflicht­be­wusst und ar­beits­eif­rig, bei­de Fran­zö­sin­nen dem Sex nicht ab­ge­neigt. Die les­bi­sche Toch­ter und de­ren Freun­din sind schlank, le­gen we­nig Wert auf ihr Äu­ße­res und tra­gen Kurz­haar­schnitt. Haus­frau­en, am Bei­spiel von Ma­ria in Bonn und sei­ner Schwes­ter, mu­tie­ren ent­we­der zu Fa­mi­li­en­kü­hen, die das Nest ein­rich­ten, oder zu We­sen, die nichts mit sich an­zu­fan­gen wissen.
      Gut, daß kei­ne Ita­lie­ne­rin­nen vorkommen. 😉

  4. Hast du ei­nen per­sön­li­chen Fa­vo­ri­ten? Ich ha­be bis­her nur den Thome ge­le­sen, mich reizt aber auch der Ro­man von Cle­mens Setz, al­ler­dings liegt noch sein De­büt hier bei mir, wes­halb In­di­go wohl erst ein­mal war­ten muss.

    1. Von der Short­list ken­ne ich bis­her auch nur Tho­mes Ro­man. Mich in­ter­es­siert au­ßer­dem Land­ge­richt, be­son­ders nach­dem ich ein Ge­spräch zwi­schen Ur­su­la Kre­chel und De­nis Scheck ver­folgt ha­be. Ei­nen Fa­vo­ri­ten ha­be ich nicht.

  5. Die glei­chen Ge­dan­ken hat­te ich auch: als ich über den In­halt die­ses Ro­mans las, dach­te ich gleich an „Nacht­zug nach Lis­sa­bon”, der mir üb­ri­gens aus­ge­zeich­net ge­fal­len hat. Nach der Lek­tü­re be­kun­de­te ich lan­ge ein gros­ses Be­dürf­nis, in An­ti­qua­ria­te zu ge­hen, um al­te Bü­cher in die Hand zu neh­men (was ein Buch al­les mit ei­nem an­stel­len kann;)). We­der „Grenz­gang” noch „Flieh­käf­te” ha­be ich bis­her ge­le­sen. Dan­ke, dass du uns an dei­nen Le­se­ein­drü­cken teil­ha­ben lässt. Scha­de nur, hat es Mi­le­na Mi­chi­ko Flašar nicht auf die Short­list des Deut­schen Buch­prei­ses geschafft.

    LG bue­cher­ma­niac

    1. Es ist schön zu le­sen, daß Du auch die­se As­so­zia­ti­on hat­test, Bue­cher­ma­niac. Mei­ne Lek­tü­re von „Nacht­zug nach Lis­sa­bon” liegt schon ei­ni­ge Zeit zu­rück. Ich fand die­sen Ro­man in­ter­es­sant, aber man­che Stel­len ha­ben mei­ne Ge­duld et­was über­for­dert. Viel­leicht soll­te ihm ei­ne zwei­te Chan­ce geben.

  6. Den Li­te­ra­tur­preis hat er ja nun nicht be­kom­men. Aber mir hat der Ro­man ge­fal­len. Die be­son­de­re At­mo­sphä­re hat mich an­ge­spro­chen und ich ha­be ihn bis zum En­de genossen.

  7. Da hast Du Recht, Bea­trix, den ers­ten Platz hat er nicht ge­macht. Ich ha­be ge­hört, es soll ein Kopf an Kopf Ren­nen zwi­schen Thome und Kre­chel ge­we­sen sein.
    Kennst Du auch sei­nen Ro­man „Grenz­gang”?

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