Verrat als Fortschritt

Amos Oz schreibt in seinem neuen Roman „Judas“ über die Wirkmacht von Verrätern

JudasFast al­le Men­schen ge­hen mit ge­schlos­se­nen Au­gen durchs Le­ben, von ih­rer Ge­burt bis zu ih­rem Tod. Auch Sie und ich, Schmu­el, mein Lie­ber. Mit ge­schlos­se­nen Au­gen. Wür­den wir die Au­gen auch nur ei­ne Se­kun­de öff­nen, wür­den wir auf der Stel­le ei­nen schreck­li­chen Schrei aus­sto­ßen, wir wür­den schrei­en und nicht auf­hö­ren zu schreien.“

Als mein Li­te­ra­tur­kreis das neue Werk „Ju­das des is­rae­li­schen Schrift­stel­lers Amos Oz für un­ser nächs­tes Tref­fen wähl­te, war ich zu­nächst skep­tisch. Ich hat­te für Mo­dicks Ril­ke-Ro­man ge­stimmt, ein The­ma, für das mich we­sent­lich stär­ker zu in­ter­es­sie­ren glaub­te als für Ju­das, Je­sus oder den un­lös­ba­ren Kon­flikt zwi­schen Is­ra­el und Pa­läs­ti­na. Ent­spre­chend vor­ein­ge­nom­men be­gann ich die Lek­tü­re, der ich ei­ne Lust von höchs­tens 40 Sei­ten ein­räum­te. Doch Amos Oz, der mit zahl­rei­chen Ro­ma­nen der meist über­setz­te Au­tor Is­ra­els ist und als An­wär­ter für den Li­te­ra­tur-No­bel­preis gilt, ver­fügt über li­te­ra­ri­sche Tricks, die so­gar mir ei­nen The­sen­ro­man über Ju­das schmack­haft machen.

Han­delt es sich über­haupt um ei­nen The­sen­ro­man? Wel­che Rol­le Je­sus und so­mit Ju­das im Ju­den­tum spielt, ist zu­nächst der Ge­gen­stand ei­ner Ma­gis­ter­ar­beit, die der 25-jäh­ri­ge Schmu­el Asch, Haupt­fi­gur des vor­lie­gen­den Ro­mans, nicht zu En­de führt. Er bricht sein Stu­di­um kurz vor dem En­de ab. An­läs­se sind viel­fach vor­han­den. Sein Va­ter muss we­gen der ei­ge­nen fi­nan­zi­el­len Mi­se­re die Zah­lun­gen an den Sohn ein­stel­len. Sei­ne Freun­din kehrt zu ei­nem ab­ge­leg­ten Lieb­ha­ber zu­rück und hei­ra­tet. Der Grund für die Kri­se liegt je­doch in Schmu­el selbst.

Um das zu er­ken­nen, schickt Oz sei­nen Prot­ago­nis­ten ins Exil, dies liegt nicht fern noch in der Wüs­te, son­dern in ei­ner Gas­se Jer­su­sa­lems. Dort fin­det der Stu­dent in den Win­ter­mo­na­ten des Jah­res 1959 ei­ne Stel­le als Ge­sell­schaf­ter ei­nes kran­ken Ge­lehr­ten, die ihm nicht nur Kost, Lo­gis und et­was Geld, son­dern auch viel Zeit zur Ver­fü­gung stellt.

Wie Asch die­se nutzt, zeigt Oz bis ins all­täg­li­che De­tail. Der Le­ser er­lebt, wie zwi­schen un­zäh­li­gen Kä­se- und Mar­me­la­den­bro­ten die Zeit da­hin­schleicht. Wie der Jun­ge auf sei­ner Ma­trat­ze un­ter der Man­sar­den­schrä­ge dem Re­gen lauscht. Wie er sich je­den Tag zur Mit­tags­mahl­zeit am glei­chen Ein­topf in der­sel­ben Ka­schem­me satt ißt, so daß ihm am Abend die Brei­res­te des Al­ten genügen.

Die­se Aben­de bie­ten geis­ti­ge Nah­rung im Ge­gen­satz zur trä­gen Lan­ge­wei­le des Ta­ges. Ger­schom Wald for­dert sei­nen jun­gen Ge­sprächs­part­ner, sie dis­ku­tie­ren über Is­ra­el und Pa­läs­ti­na und die Ge­gen­sät­ze, die un­über­wind­bar erscheinen.

Wald, der sei­nen Sohn wäh­rend des Kampfs ver­lor, er­zählt von Ab­ra­ba­nel, dem Va­ter sei­ner Schwie­ger­toch­ter Ata­l­ja, der al­lein­ste­hen­den Wit­we, mit der er nun zu­sam­men­lebt. Ab­ra­ba­nel trat ge­gen den Na­tio­na­lis­mus ein, er sprach mit Is­rae­lis wie mit Pa­läs­ti­nen­ser und wünsch­te ei­ne ein­ver­nehm­li­che Lö­sung. In den Au­gen der Zio­nis­ten wird er da­durch zum Ver­rä­ter. Doch sind es nicht die Ver­rä­ter, die Ver­än­de­rung bewirken?

Amos Oz, der po­li­tisch für die Zwei-Staa­ten-Lö­sung ein­tritt, lässt sei­nen Ge­lehr­ten Ger­schom über die­se Fra­ge klug do­zie­ren. Er baut so die Brü­cke zu Ju­das, dem For­schungs­the­ma von Aschs Ab­schluss­ar­beit. Auf die­se Wei­se an­ge­regt, schreibt der Stu­dent wei­ter an sei­nen The­sen. Sei­ne Sicht bleibt als athe­is­ti­scher So­zia­list stets wis­sen­schaft­lich di­stan­ziert und kri­tisch. Auch für den athe­is­ti­schen Le­ser sind so­mit die­se Pas­sa­gen er­träg­lich. Zu­mal Oz die po­li­ti­schen und re­li­gi­ons­ge­schicht­li­chen Aus­füh­run­gen ge­schickt in ei­ne Lie­bes­an­bah­nung ein­webt. Denn na­tür­lich ver­fällt der frisch Ver­las­se­ne in sei­ner Ein­sie­de­lei dem ein­zi­gen weib­li­chen We­sen des Hau­ses. Den Al­ters­un­ter­schied macht die er­fah­re­ne Ata­l­ja durch Tricks wett, von de­nen wahr­schein­lich schon die Bi­bel be­rich­te­te, sie zeigt die kal­te Schul­ter und lässt ihn zap­peln. Und wie bei die­sen al­ten Ge­schich­ten fin­den sich auch hier Zei­chen und Wun­der. Von An­fang an weiß der Le­ser, daß Schmu­el sich ver­lie­ben wird, und dank der Li­ta­nei der War­nun­gen, wie die­se Ge­schich­te endet.

Auch Ata­l­ja wird Schmu­el ver­ra­ten, doch ein Ver­rat, nicht nur der ei­ner ero­ti­schen Be­zie­hung, setzt im­mer ei­ne Neu­ent­wick­lung in Gang. Dies ist die gro­ße The­se in Amos Oz’ Ro­man, für die er ei­ni­ge Ge­währs­män­ner an­tre­ten lässt. Lin­coln, Stauf­fen­berg und de Gaul­le ver­leiht er den, wie er es Wald sa­gen lässt, „Eh­ren­ti­tel Ver­rä­ter“. Als ak­tu­el­les Bei­spiel hät­te man sich Ed­ward Snow­den gewünscht.

Für die christ­li­che Re­li­gi­on nennt er Ju­das, und folgt da­mit The­sen, die sich bis weit in die Jahr­hun­der­te zu­rück­ver­fol­gen las­sen. Ei­ni­ge sei­ner Quel­len legt Oz of­fen, dar­un­ter sei­nen zio­nis­ti­scher Groß­on­kel Jo­seph Klaus­ner, man­che zi­tiert er di­rekt, auf zwei Un­ter­su­chun­gen zur Rol­le von Je­sus im Ju­den­tum ver­weist sein Nach­wort. Wäh­rend mei­ner Re­cher­chen zu die­ser Li­te­ra­tur, bin ich auf den Es­say „Wer war Ju­das“ von Ur­su­la Ho­mann ge­sto­ßen. Sie bie­tet dar­in ei­nen auf­schluss­rei­chen Über­blick und ver­weist auf ei­nen jid­di­schen Au­tor, der in der ers­ten Hälf­te des letz­ten Jahr­hun­derts über Ju­das ge­schrie­ben hat, sein Na­me Scha­lom Asch.

Amos Oz setzt sich in „Ju­das“ kri­tisch mit dem Ab­so­lut­heits­an­spruch von Re­li­gio­nen und Na­tio­nen aus­ein­an­der und un­ter­sucht die Rol­le des Ver­rä­ters. Das Er­geb­nis ist ein span­nen­der und hoch­in­ter­es­san­ter Ro­man, an dem auch die athe­is­ti­sche Ata­lan­te fast nichts zu be­män­geln hät­te, gä­be es da nicht ein Am­phi­thea­ter, das kei­nes sein kann.

Amos Oz, Judas, übers. v. Mirjam Pressler, Suhrkamp Verlag, 1. Aufl. 2015

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